2.1 Bindungswirkung
Rz. 3
Nach nunmehr geltendem Recht ist gemäß § 62a Satz 1 die Entscheidung der Pflegekasse über den Pflegegrad für den Träger der Sozialhilfe bindend, soweit sie auf Tatsachen beruht, die bei beiden Entscheidungen zu berücksichtigen sind. Damit wird klargestellt, dass die Entscheidung der Pflegekasse unter den genannten Voraussetzungen nicht mehr nur "zugrunde zu legen", sondern "bindend" ist. Eine unterschiedliche Beurteilung desselben Sachverhaltes durch den Sozialhilfeträger einerseits und die Pflegekasse andererseits ist damit nach dem Gesetz nicht möglich. Im Bereich der Hilfe zur Pflege gilt nunmehr der gleiche Pflegebedürftigkeitsbegriff wie im Recht der sozialen Pflegeversicherung. Wie schon nach altem Recht dürfte ausgehend vom Wortlaut der Vorschrift ("Pflegekasse") eine Bindungswirkung durch die Entscheidung einer privaten Pflegeversicherung nicht eintreten.
Rz. 4
Soweit die Bindungswirkung greift, ist der Sozialhilfeträger von seiner Amtsermittlungspflicht nach § 20 SGB X befreit. Dies gilt allerdings nur dann, wenn eine Entscheidung der Pflegekasse in Form eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes i. S. d. § 31 SGB X vorliegt (vgl. Kaiser, in: BeckOK SGB XII, § 62a Rz. 1 unter Hinweis auf OVG Lüneburg, Beschluss v. 26.6.1995, 12 M 3542/95). Hat hingegen bisher lediglich eine Untersuchung durch den MD stattgefunden, bzw. ist die Entscheidung der Pflegekasse nicht bestandskräftig, können im Einzelfall bei Vorliegen von Eilbedürftigkeit Ermittlungen durch den Träger der Sozialhilfe von Amts wegen anzustellen sein.
Rz. 5
Da im SGB XI keine dem § 62a Satz 1 entsprechende Vorschrift existiert, kann eine spätere, abweichende Entscheidung der Pflegekasse dazu führen, dass der Sozialhilfeträger wiederum gemäß § 62a an diese gebunden ist. Die Pflegekasse kann ein etwaiges Ermittlungs- und Begutachtungsergebnis des Sozialhilfeträgers folglich durch eigene Ermittlungen korrigieren.
Rz. 6
Auch im Falle einer rückwirkenden Erhöhung des Pflegegrades durch die Pflegekasse infolge eines Verschlimmerungsantrags ist der Sozialhilfeträger (unabhängig von seiner Kenntnis) hieran gebunden und muss ggf. rückwirkend höhere Leistungen erbringen, soweit er die Pflegebedürftigkeit an sich kannte (vgl. hierzu: Meßling, a. a. O., § 62a Rz. 24). Nach der früheren verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zum BSHG begründete eine rückwirkende Erhöhung der Pflegestufe durch die Pflegekasse grundsätzlich keinen Anspruch auf Nachbewilligung höheren Pflegegeldes, solange der Träger der Sozialhilfe von dem erhöhten Pflegebedarf keine Kenntnis hatte (BVerwG, Urteil v. 12.12.2002, 5 C 61/01; ebenso OVG Lüneburg, Urteil v. 25.10.2001, 12 LB 2908/01, und OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 5.12.2000, 22 A 5487/99). Das BSG ist hiervon in seiner Entscheidung v. 2.2.2012 (B 8 SO 5/10 R) in Bezug auf § 62 a. F. abgerückt. Es sind in der Entscheidung grundlegende Ausführungen zum Verhältnis des Kenntnisgrundsatzes (§ 18) zu § 62 a. F. enthalten. Das Gericht hat klargestellt, dass § 18 zum Schutz des Hilfebedürftigen einen niedrigschwelligen Zugang zum Sozialhilfesystem sicherstellen will und daher ausreichend (aber auch erforderlich) ist, dass überhaupt die Notwendigkeit der Hilfe erkennbar ist, nicht aber in welchem Umfang die Hilfe geleistet werden muss.
Rz. 7
Über Inhalt und Umfang der Leistungen entscheidet der Sozialhilfeträger unter Berücksichtigung der Vorschriften des 7. Kapitels. Er hat – dies verdeutlicht § 63a – die Aufgabe, den Bedarf der hilfesuchenden Person festzustellen. Die Bindungswirkung bezieht sich lediglich auf den ermittelten Pflegegrad und – wie schon nach altem Recht – nicht auf die Art (ambulant, teilstationär, stationär) und den Umfang der erforderlichen Leistung. Durch die Bindungswirkung sollen Doppelbegutachtungen von Sozialhilfeträger und Pflegekasse weitestgehend vermieden und dadurch eine Beschleunigung und Entbürokratisierung des Verwaltungsverfahrens erreicht werden. Gleichzeitig wird eine unnötige Belastung der Betroffenen durch mehrfache Begutachtungen verhindert und (Personal-)Kosten aufseiten der Sozialleistungsträger gespart.
2.2 Entscheidung in eigener Verantwortung mit Hilfe Dritter
Rz. 8
Liegt keine Entscheidung der Pflegekasse über den Pflegegrad vor – dies ist bei nichtversicherten Pflegebedürftigen anzunehmen –, entscheidet der Sozialhilfeträger nach § 62a Satz 2 in eigener Verantwortung hierüber. Dabei kann er sich der Hilfe Dritter bedienen. "Dritter" in diesem Sinne meint z. B. den MD oder das Gesundheitsamt als Sachverständige. Der MD kann gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 SGB XI von den Pflegekassen mit der Prüfung beauftragt werden, ob die Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit erfüllt sind und welcher Pflegegrad vorliegt.
Rz. 9
Aber auch dann, wenn die Begutachtung durch das Gesundheitsamt durchgeführt wird, sind gemäß § 62 die nach § 17 SGB XI erlassenen Richtlinien anzuwenden. Denn auch an dieser Stelle sollen – aufgrund der Verzahnung von Hilfe zur Pflege und SGB XI – nichtversicherte Pflegebedürftige gleichbehandelt werden mit Pflegebedürftigen, die Mitglieder ...