2.1 Zweck der Regelung – Charakter der Leistung

 

Rz. 3

Die Blindheit soll die durch Blindheit bedingten materiellen Mehraufwendungen ausgleichen (BVerwG, Urteil v. 4.11.1976, V C 7.76, FEVS 25 S. 1). Dabei ist an Aufwendungen für Betreuungspersonen oder für Hilfsmittel, die nicht nach anderen Bestimmungen geleistet werden können, gedacht (Meusinger, in: Fichtner, BSHG, 2. Aufl. 2003, § 67 Rz. 8). Den Ausgleich immaterieller Nachteile kann und darf die Vorschrift sowohl aus systematischen wie auch aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht bezwecken (a. A. Brühl, in: LPK-BSHG, 6. Aufl. 2003 § 67 Rz. 1). Denn zum einen ist das SGB XII ein Gesetz zur Behebung konkreter Notlagen, in dem ein immaterieller Schadensausgleich einen Fremdkörper darstellen würde. Zum anderen wäre ein solcher immaterieller Schadensausgleich, der einem erheblichen Teil der Betroffenen aus materiellen Gründen (nämlich dem Überschreiten der Einkommens- und Vermögensgrenzen) versagt würde, mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar. An der o. g. Rechtsprechung des BVerwG, die auf die materielle Benachteiligung von Blinden abstellt, ist daher festzuhalten.

Die Blindenhilfe wird demnach als pauschalierte Geldleistung erbracht, hat aber dennoch nicht den Charakter einer rentengleichen Dauerleistung, sondern ist Hilfe zur Überwindung einer konkreten Notsituation (BVerwG, Urteil v. 15.11.1967, V C 71.67, FEVS 15 S. 361). Aus diesem Grund sind Ansprüche aus § 72 grundsätzlich nicht vererblich, wenn sie bis zum Tode des Leistungsberechtigten noch nicht zugesprochen und die Gewährung von Blindenhilfe nicht wegen eines säumigen Verhaltens der Sozialhilfebehörde unterblieben ist (BVerwG, Urteil v. 31.8.1966, V C 162.65, FEVS 14 S. 92; OVG Hamburg, ZfSH/SGB 1985 S. 474).

2.2 Begriff der Blindheit – Bindung an Statusentscheidung des Versorgungsamts

 

Rz. 4

Der Begriff des blinden Menschen nach § 72 ist mit dem des Schwerbehindertenrechts identisch (BVerwG, Urteil v. 22.6.1966, V C 180.65, FEVS 13 S. 288). Danach ist derjenige blind, dem das Augenlicht vollständig fehlt oder dessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch bei beidäugiger Prüfung mehr als 1/50 beträgt oder bei dem nicht nur vorübergehende andere Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie dieser Beeinträchtigung des Sehvermögens gleichzuachten sind (Abs. 5). Bei der Beurteilung der Sehschärfe kommt es allein auf die Minderung der Sehfunktion an; andere Umstände, die zur Behinderung des Hilfesuchenden führen, bleiben außer Betracht. Dies schließt nicht aus, dass neben der Sehschärfe auch die Gesichtsfeldbeeinträchtigungen Berücksichtigung finden oder sonstige Erschwernisse, die die Sehfunktion selbst betreffen (BVerwG, Urteil v. 15.11.1967, V C 71.67, FEVS 15 S. 361). Die Ursache der Blindheit hat für die Anwendung des § 72 keine Auswirkungen, spielt aber bei schuldhaftem Verhalten ggf. im Rahmen des § 103 eine Rolle.

 

Rz. 5

Blind i. S. d. § 72 ist auch, wem das Merkzeichen "B 1" bestandskräftig zuerkannt wurde, denn eine Statusentscheidung des Versorgungsamtes ist für den Sozialhilfeträger bindend (BVerwG, Urteil v. 27.2.1992, 5 C 48/88, BVerwGE 90 S. 65). Auf die Rechtmäßigkeit dieses Bescheides kommt es nicht an. Bei einer rückwirkenden Statusentscheidung des Versorgungsamtes kommt auch die Rückforderung des gewährten Blindengeldes in Betracht OVG Hamburg, ZfSH/SGB 1988 S. 654).

 

Rz. 6

Schwerstsehbehinderte sind von Leistungen nach § 72 ausgeschlossen (OVG Nordrhein-Westfalen, FEVS 53 S. 73). Eine Erweiterung des Tatbestands scheidet nach § 31 SGB I aus.

2.3 Vorrangige Leistungen

 

Rz. 7

Die Blindenhilfe ist nachrangig gegenüber dem Bezug gleichartiger Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften (Abs. 1 Satz 1). Gleichartige Leistungen in diesem Sinne liegen vor, wenn sie dem gleichen Zweck dienen wie die Blindenhilfe, d. h. dazu einen Ausgleich für die durch Blindheit bedingten materiellen Mehraufwendungen zu schaffen (Meusinger, a. a. O., § 67 Rz. 5). Gleichartige Leistungen sind daher die Pflegezulage gemäß § 35 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG), das Pflegegeld gemäß § 44 SGB VII, die Pflegezulage nach § 269 Lastenausgleichsgesetz – LAG (OVG Lüneburg, FEVS 25 S. 70) und die Leistungen nach den Blinden- und Pflegegesetzen der Länder (Nachweise bei Meusinger, a. a. O., Rz. 7). Allerdings werden Letztere gegenwärtig aus Haushaltsgründen schrittweise abgeschmolzen bzw. aufgehoben, so dass die praktische Bedeutung des § 72 zunimmt. Bezogen auf stationäre Unterbringung greift Abs. 3 ein. Im Übrigen gilt, dass die Unterbringung etwa in einer Strafvollzugsanstalt die Gewährung von Blindenhilfe nicht per se, sondern nur dann ausschließt, wenn dort der blindheitsbedingte Mehrbedarf volle Deckung erfährt (BVerwG, Urteil v. 4.11.1976, V C 7.76, FEVS 25 S. 1).

 

Rz. 8

Kein Nachrang besteht gegenüber der Grundrente nach dem BVG, der Unfallrente nach dem SGB VII, dem Freibetrag nach § 267 LAG bzw. einem danach gewährten Taschengeld für Internatsschüler (BVerwG, Urteil v. 8.10.1969, V C 57.69, NDV 1970 S. 167).

 

Rz. 9

Unabhängig von der Blindenhilfe sind auch Leistungen der Eingliederungshilfe, so etwa bezüglich der Kosten eines Blindenführh...

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