Rz. 4

Voraussetzung für die Anwendung des § 73 ist, dass der Einsatz öffentlicher Mittel "gerechtfertigt" ist. Nach Auffassung des OVG Berlin (FEVS 19 S. 210) handelt es sich dabei um eine gerichtlich voll nachprüfbare Tatfrage im Sinne eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Bei dem dann eröffneten Ermessen soll es sich nur noch um ein Auswahl-, nicht um ein Entschließungsermessen handeln. Es soll auf die Überlegung abzustellen sein, ob die jeweilige unbenannte Notlage die Gleichbehandlung mit einer im Gesetz genannten Notlage gebiete. Die Literatur ist der Entscheidung teilweise gefolgt (Armborst, in: LPK-BSHG, 6. Aufl. 2003, § 27 Rz. 12; Fichtner, a. a.O., § 27 Rz. 3; Kunz, in: Oestreicher/Schelter/Kunz, BSHG, Stand Juni 2003, § 27 Rz. 7).

 

Rz. 5

Dem ist entgegenzuhalten, dass die Frage, wann der Einsatz öffentlicher Mittel gerechtfertigt ist, eine klassische Entscheidung des parlamentarischen Verfahrens ist, weil die dazu erforderliche Priorisierung bzw. Posteriorisierung öffentlicher Belange von individuellen bzw. von politischen (Vor-)Wertungen abhängt und ein tragfähiger Konsens nur durch transparent gemachten demokratisch legitimierten Mehrheitsbeschluss herstellbar ist. Dies gilt für den Träger der Sozialhilfe entsprechend, da dieser mit den gemäß Art. 28 GG durch demokratische Wahl gebildeten Entscheidungsgremien über solcherart legitimierte Organe verfügt. Diesen ist daher die Ausfüllung des durch § 73 eröffneten Ermessens vorbehalten. Die Figur des unbestimmten Rechtsbegriffs, die im Ergebnis die Wertung eines gerichtlichen Spruchkörpers an diese Stelle setzt, ist mithin für § 73 abzulehnen. Es handelt sich vielmehr um die Zuweisung pflichtgemäßen Ermessens, das nach den Grundsätzen des § 17 Abs. 2 auszuüben ist (so auch Linhart/Adolph/Gröschel-Gundermann, a. a.O., § 27 Rz. 11).

 

Rz. 6

Dies enthebt die Träger der Sozialhilfe nicht der Kontrolle, denn die Gerichte haben auch nach der hier vertretenen Auffassung zu überprüfen, ob bei der Ausfüllung des eingeräumten Ermessens von zutreffenden Tatsachen ausgegangen wurde und ob die Grenzen des Ermessens durch Verstoß gegen höherrangiges Recht verletzt sind, was insbesondere dann der Fall ist, wenn durch Anwendung des § 73 speziell geregelte Leistungsvoraussetzungen und Leistungsausschlüsse unterlaufen werden sollen (BayVGH, FEVS 22 S. 435; OVG Hamburg, FEVS 33 S. 96; Linhart/Adolph/Gröschel-Gundermann, BSHG, Stand April 2004, § 27 Rz. 9), oder ob gleichheitswidrig einzelne Gruppen von Leistungsberechtigten privilegiert würden. Auch der Ausnahmecharakter der Vorschrift gebietet eine enge Auslegung. Der Wortlaut ("kann") gibt keinen Anhalt, die Norm in eine bloße Aufzählung einer weiteren Hilfeart mit der Folge zu deuten, dass dem Leistungsberechtigten ein entsprechender Rechtsanspruch zustünde und das Gericht auch das "Ob" der Leistung voll nachprüfen könnte; voll nachprüfbar sind lediglich die genannten weiteren Voraussetzungen der Gewährung (Linhart/Adolph/Gröschel-Gundermann, a. a.O., § 27 Rz. 9). Eine Klage auf Leistungen unmittelbar aus § 73 dürfte danach nur in seltenen Fällen einer Ermessensreduzierung auf Null bzw. in Fällen grundrechtswidriger Ungleichbehandlung begründet sein.

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