4.1 Allgemeine Regelungen
Rz. 48
Der das Sozialhilferecht beherrschende Nachranggrundsatz in § 2 entfaltet seine Wirkung auch im Bereich der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen. Der Nachranggrundsatz setzt sich aus zwei unterschiedlichen Bestandteilen zusammen. Zum einen muss eine materielle Bedürftigkeit vorliegen, also die Unmöglichkeit, aus eigenem Einkommen und Vermögen die benötigten Leistungen selbst (vgl. Rz. 21 ff.) zu beschaffen, zum anderen dürfen keine Leistungspflichten anderer, insbesondere Unterhaltspflichtiger oder der Träger anderer Sozialleistungen gegeben sein. Grundsätzlich müssen auch im Recht der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen beide Tatbestände vorliegen, um die Leistungsmöglichkeit der Eingliederungshilfe zu eröffnen. Im Rahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen sind praktisch bedeutsame vorrangige Leistungsverpflichtungen neben anderen Sozialleistungsträgern (Krankenversicherung, Rentenversicherung, Unfallversicherung) solche, die aufgrund von zivilrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen Haftungstatbeständen leistungsverpflichtet sind. Solche Tatbestände sind insbesondere medizinische Behandlungsfehler, Verkehrsunfälle oder sonstige Fremdeinwirkungen auf Leben und Gesundheit (vgl. im Einzelnen Komm. zu § 2; sehr instruktiv die umfangreiche Darstellung der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe: Vorläufige Orientierungshilfe zur Abgrenzung der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII zu anderen sozialen Leistungen, Stand: 25.11.2008, veröffentlicht im Internet auf der Homepage der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe unter www.bagues.de).
4.2 Verhältnis zur Kinder- und Jugendhilfe, SGB VIII
Rz. 49
Nicht nur die Sozialhilfeleistungen sind nachrangig, auch für die Kinder- und Jugendhilfe nach SGB VIII gilt der Grundsatz des Nachranges (§ 10 Abs. 1 SGB VIII), der dem Nachranggrundsatz in § 2 BSHG/SGB XII fast wörtlich nachgebildet ist.
Rz. 50
Es ist daher eine Kollisionsvorschrift erforderlich, die eine generelle Regelung zum Verhältnis dieser beiden nachrangigen Leistungen trifft. Grundsätzlich gehen Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilferecht denjenigen nach dem Sozialhilferecht vor, also im Verhältnis dieser beiden Rechtsgebiete ist das Kinder- und Jugendhilferecht vorrangig anzuwenden. Das gilt prinzipiell auch für die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen. Allerdings macht das Kinder- und Jugendhilferecht eine entscheidende Ausnahme von der Vorrangregelung. Nach § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII gehen Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Sozialhilferecht für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilferecht vor (vgl. Rz. 56b). Diese Regelung kann ihrer Natur nach nur dann greifen, wenn wegen der genannten Behinderung sowohl Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe als auch der Eingliederungshilfe in Betracht kommen (Schmeller, in: Mergler/Zink, SGB XII, § 53 Rz. 53; Grube/Wahrendorf, a.a.O., § 54 Rz. 2; BayVGH, Urteil v. 13.9.2006, 12 BV 06.808, Sozialrecht aktuell 2007 S. 25). Im Übrigen stellt die Kollisionsvorschrift des § 10 SGB VIII weder auf die Wesentlichkeit noch auf die Dauer der Behinderung ab.
Rz. 51
Im Ergebnis besteht der Vorrang der Kinder- und Jugendhilfe für alle seelisch behinderten jungen Menschen, und zwar unabhängig davon, ob die Behinderung wesentlich oder nicht wesentlich oder ob sie nicht vorübergehend oder vorübergehend ist (Greß/Rixen/Wasem, VSSR 2009 S. 43). Die gesetzgeberische Motivation für die Anordnung dieses Vorranges liegt darin begründet, dass ansonsten die schwierig zu treffende und streitanfällige Unterscheidung zwischen verhaltensauffälligen oder in ihrer Entwicklung gestörten Jugendlichen einerseits und tatsächlich seelisch behinderten Jugendlichen andererseits sich erübrigt (Schmeller, in: Mergler/Zink, SGB XII, § 53 Rz. 53 ff.; Schellhorn/Schellhorn/Hohm, a.a.O., § 53 Rz. 75).
Rz. 52
Wird in Anwendung des § 10 SGB VIII der Vorrang und damit die Zuständigkeit der Sozialhilfe festgestellt, weil es sich um einen körperlich oder geistig behinderten jungen Menschen handelt, so richtet sich der Eingliederungshilfeanspruch nach den materiell-rechtlichen Vorschriften der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII. Muss die Hilfe mangels Wesentlichkeit der Behinderung oder wegen ihres nur vorübergehenden Charakters abgelehnt werden, entfällt der grundsätzlich vorrangige Anspruch auf Eingliederungshilfe mangels Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen. In diesen Fällen muss wiederum der Jugendhilfeträger über sonstige Leistungen nach SGB VIII entscheiden (Schmeller, in: Mergler/Zink, SGB XII, § 53 Rz. 56).
Rz. 53
Eine vorrangige Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers sagt für sich noch nichts über etwaige materiell-rechtliche Ansprüche des jungen Menschen. Mit § 35a SGB VIII wurde eine entsprechende Rechtsgrundlage geschaffen. Danach haben Kinder und Jugendliche, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von de...