2.1 Inkrafttreten
Rz. 5
§ 11 gilt nur für Versicherungsfälle, die nach dem 1.1.1997 eintreten, § 212 (vgl. LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil v. 10.6.1999, L 5 U 68/98). Problematisch ist, ob unter dem Begriff des Versicherungsfalls der Erst- oder der Zweitunfall zu verstehen ist. Entscheidend für die Anwendung des § 11 ist der Zeitpunkt des Eintritts des Zweitunfalls, nicht derjenige des Erstunfalls. Die Vorschrift beschreibt einen gedehnten Versicherungsfall, der erst abgeschlossen ist, wenn die letzte Schadensfolge eingetreten ist. Mittelbare Unfallfolgen sind auch solche, die bei der Erkennung oder Behandlung von Folgen des Versicherungsfalls eingetreten sind (Hessisches LSG, Urteil v. 15.6.2010, L 3 U 22/07). Weil § 11 bei einer Gesamtbetrachtung durch die Ausdehnung auf Maßnahmen nach § 3 BKV die Rechtslage im Vergleich mit dem bis zum 31.12.1996 geltenden Recht § 555 RVO zugunsten der Versicherten verbessert, ist er bereits dann anzuwenden, wenn die Gesetzesänderung vor dem Eintritt des Zweitunfalls in Kraft getreten ist. Insoweit entspricht die Rechtslage derjenigen bei § 63 Abs. 2, bei dem der Eintritt des Todes entscheidet.
Dass § 11 keinen eigenständigen Versicherungsfall darstellt, sondern nur die gesetzliche Zurechnung mittelbarer Folgen zu einem Erstversicherungsfall regelt, steht nicht entgegen. Diesem Gesichtspunkt wird dadurch Rechnung getragen, dass es für den Erstunfall bei der Rechtslage im Zeitpunkt seines Eintretens verbleibt. Nur die besonderen weiteren Verrichtungen, die § 11 kraft Gesetzes zurechnet, bestimmen sich nach der neuen Rechtslage (vgl. BSG, Urteil v. 30.6.1965, 2 RU 175/63). Abschließend zeigt auch der Vergleich mit dem Versicherungsfall der Berufskrankheit, dass Versicherungsfall nicht im engen Sinne zu verstehen ist, sondern der Leistungsfall entscheidend sein kann.
Bei einem Versicherten wurde im September 1996 Lungenkrebs nach Nr. 4104 der Anlage 1 zur BKV (sog. Berufskrankheitenliste) als Berufskrankheit anerkannt. Am 2.1.1997 verunglückt er auf dem Heimweg von einer Röntgenuntersuchung mit seinem Pkw. § 11 ist anwendbar.
2.2 Überblick über die mittelbaren Schäden
Rz. 6
Systematisch regelt § 11 nur eine Fallgruppe mittelbarer Schäden. Ein sog. mittelbarer Schaden liegt vor, wenn zu einer ersten Gesundheitsstörung eine weitere hinzutritt, die rechtlich wesentlich durch die anerkannte Unfallfolge mit verursacht ist. Im Gegensatz zur Verschlimmerung eines Schadens, die unproblematisch dem Erstunfall zugehört, tritt ein zweites Unfallereignis hinzu, welches eine nach Identität und Qualität verschiedene, also selbständige Schädigung darstellt. Der Erstunfall muss grundsätzlich ein Versicherungsfall nach § 8 oder § 9 sein. Da immer Anerkennungen eines Versicherungsfalls vorausgegangen sein werden, dürfte die Anscheinsproblematik nach der neueren Rechtsprechung des BSG (vgl. dazu Rz. 3a) sich in der Praxis allenfalls in Ausnahmefällen auswirken (Ricke, in: BeckOGK, Stand: 15.2.2024, SGB VII, § 11 Rz. 11). Im Hinblick auf die rechtliche Behandlung des Zweitunfalls differenziert die Rechtsprechung des BSG einerseits nach der Art des zweiten Unfalls – Versicherungsfall oder Unfall bei eigenwirtschaftlicher Tätigkeit – und andererseits nach der Ursache des Zweitschadens als Folge der Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes (Behinderung) des ersten Arbeitsunfalls oder dem Ausmaß seiner Folgen (vgl. Ricke, a. a. O., Rz. 4).
4 verschiedene Fallgruppen mittelbarer Schäden sind zu unterscheiden:
Beispiele:
- Ein Versicherter erlitt 1995 einen Arbeitsunfall, der zu einer Beinversteifung führte. Im Dezember 2006 brach er sich das rechte Bein, weil er das steife Bein beim Besteigen eines Paternosters im Betrieb nicht schnell genug nachziehen konnte.
- Der Unfall im Dezember geschah beim privaten Einkauf auf einer Rolltreppe.
- Ein Arbeitsunfall eines Versicherten führte 1998 zu einem steifen Armgelenk. Der Versicherte rutscht auf dem Weg ins Büro aus und stürzt eine Treppe hinunter. Er zieht sich schwere Schädelprellungen zu, weil er ein Aufschlagen des Kopfes nicht mit den Händen abfangen konnte.
- Der Treppensturz geschieht in der Privatwohnung.
Rz. 7
Tabellarischer Überblick über die Behandlung nach der Rechtsprechung des BSG (BSG, Urteil v. 24.2.1988, 2 RU 11/87; BSG, Urteil v. 13.7.1978, 8 RU 84/77; abweichend wegen der Besonderheiten der Teilnahme am Straßenverkehr mit einem Pkw: BSG, Urteil v. 20.5.1992, 9 a RV 28/90):
Erstunfall |
Zweitunfall |
|
Arbeitsunfall/ Berufskrankheit |
Unfall bei eigenwirtschaftlicher Tätigkeit |
Die Schädigung ist kausal für die Entstehung des Zweitunfalls. |
zu 1.: zuständig ist der erste UV-Träger |
zu 2.: zuständig ist der erste UV-Träger* |
Die Schädigung ist kausal nur für das Ausmaß der Folgen des Zweitunfalls. |
zu 3.: zuständig ist der zweite UV-Träger |
zu 4.: zuständig ist der erste UV-Träger |
* Einen Spezialfall dieser Fallgruppe beschreibt § 11 für die genannten Tätigkeiten und die zugehörigen Wege. Die bis zum 31.12.1996 geltende Norm (§ 555 RVO) war 1963 als Korrektur der Rechtsprechung des BSG (Zusammenfassung...