2.1.1 Grundtatbestände
Rz. 2
Abweichend von anderen Gesetzen hat der Gesetzgeber bei den Strafvorschriften nicht im Einzelnen angegeben, welche Verhaltensweisen als Straftaten zu ahnden sind. Vielmehr wird auf die in den "Grundtatbeständen" der Ordnungswidrigkeiten gemäß § 104 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 angegebenen Handlungen Bezug genommen und nur ergänzend angegeben, unter welchen Voraussetzungen dieses Verhalten eine Straftat ist. Die in § 104 Abs. 1 Nr. 3 und 4 genannten Verstöße gegen bestimmte Meldepflichten bzw. die Auskunftspflicht des Arbeitgebers betreffen Kinder und Jugendliche nicht unmittelbar und können – auch in Wiederholungsfällen – nicht als Straftaten verfolgt werden.
2.1.2 Leichtfertige schwere Gefährdung nach Nr. 1
Rz. 3
Die im "Grundtatbestand" vorsätzliche Betreuung eines Kindes oder die Aufnahme eines Kindes oder eines Jugendlichen über Tag und Nacht in seinem Haushalt ohne Pflegeerlaubnis (§ 104 Abs. 1 Nr. 1) oder der Betrieb einer Einrichtung ohne Erlaubnis (§ 104 Abs. 1 Nr. 2) wird als Straftat geahndet, wenn dadurch leichtfertig ein Kind oder ein Jugendlicher in seiner körperlichen, geistigen oder sittlichen Entwicklung schwer gefährdet wird. Voraussetzung ist mithin, dass der Täter den "Grundtatbestand" vorsätzlich verwirklicht und darüber hinaus (mindestens) leichtfertig die genannte schwere Gefährdung verursacht.
Rz. 3a
Leichtfertigkeit liegt vor, wenn der Täter grob achtlos handelt und nicht beachtet, was sich unter den Voraussetzungen seiner Erkenntnisse und Fähigkeiten aufdrängen muss. Weitere Voraussetzung für eine Straftat ist, dass durch das leichtfertige Verhalten eine schwere Gefährdung in der Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen verursacht worden ist. Eine schwere Gefährdung ist anzunehmen, wenn zu befürchten ist, dass in der Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen der normale Ablauf des körperlichen, geistigen oder sittlichen Reifungsprozesses dauernd oder nachhaltig gestört wird.
Rz. 3b
Der Straftatbestand erfordert daher nach Nr. 1 zwar die Erfüllung des Merkmals Leichtfertigkeit, fordert aber im Gegensatz zu der Nr. 2 ausdrücklich keine Vorsatztat. Damit wird gerade nicht eine vorsätzliche Begehung unter Strafe gestellt (auf den insoweit bestehenden Wertungswiderspruch weist zutreffend hin: Noak, HRRS 2016 S. 505).
Rz. 3c
Für die Erfüllung des Straftatbestandes ist weiter erforderlich, dass die schwere Gefährdung in einer Betreuungssituation von Kindern und Jugendliche ohne eine entsprechende Erlaubnis i. S. v. § 104 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 erfolgen muss; erfolgte die schwere Gefährdung daher trotz erteilter Erlaubnis, scheidet ein Straftatbestand nach Nr. 1 aus (dies ist zu Recht in der Literatur auf Kritik gestoßen, vgl. stellv.: Noak, HRRS 2016 S. 505); diese Beschränkung des Straftatbestandes auf eine Situation der schweren Gefährdung ohne entsprechende Erlaubnis verkürzt den Schutz des Kindes oder Jugendlichen in erheblichem Maße. Auch bei einer erlaubten Betreuung besteht ein ähnliches Strafbedürfnis zum Schutz des Kindeswohls.
2.1.3 Beharrliches Wiederholen nach Nr. 2
Rz. 4
Auch hier knüpft die Strafvorschrift an die "Grundtatbestände" des § 104 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 an und setzt zusätzlich voraus, dass die Handlung beharrlich wiederholt worden ist; es handelt sich daher um ein sog. sukzessives Delikt. Kennzeichnend für diesen Deliktstypus ist ein immer wiederkehrendes Verhaltensmuster über einen längeren Zeitraum (Hochmayr, ZStW 2010 S. 757, 783).
Rz. 4a
Vergleichbare Deliktstatbestände finden sich in § 184e StGB (Veranstaltung und Besuch kinder- und jugendpornographischer Darbietungen), in § 20 Geräte- und ProduktsicherheitsG (Strafvorschriften), in § 148 Nr. 1 GewO (Strafbare Verletzung gewerberechtlicher Vorschriften) und in § 58 Abs. 5 JugendarbeitsschutzG (vgl. auch bei Hochmayr, ZStW 2010 S. 757, 783). Der jeweils dort verwendete Begriff der Beharrlichkeit kann auch für die Ausfüllung des Merkmals der Beharrlichkeit i. S. d. § 105 Nr. 2 herangezogen werden. Auf die Rechtsprechung zu den vergleichbaren Vorschriften kann daher Bezug genommen werden.
Rz. 4b
Eine Wiederholung des Verhaltens ist eine Voraussetzung, reicht aber alleine nicht aus. Hinzutreten muss das Merkmal der Beharrlichkeit, d. h. eine in der Tatbegehung zum Ausdruck kommende besondere Hartnäckigkeit und damit die gesteigerte Gleichgültigkeit des Täters, die zugleich die Gefahr weiterer Begehung indiziert. Auch eine erstmalige Wiederholung kann danach bereits beharrlich sein, während auch bei mehrfachen Wiederholungen, z. B. bei langen Zeitabständen zwischen den einzelnen Taten oder anders gelagerten Fallgestaltungen, das Merkmal der Beharrlichkeit nicht gegeben ist.
Rz. 4c
Der Begriff der Beharrlichkeit i. S. v. Nr. 2 begegnet unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgebots Bedenken (zutreffend Noak, HRRS 2016 S. 505); es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der folgerichtig voll gerichtlich überprüfbar und der eng auszulegen ist. Nur durch eine enge Auslegung kann dem Bestimmtheitsgebot ausreichend Rechnung getragen werden.