0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
§ 105 ist derzeit i. d. F. der Bekanntmachung v. 11.9.2012 (BGBl. I S. 2022) seit 1.1.2012 in Kraft.
Die Vorschrift ist seit Inkrafttreten des SGB VIII – durch das Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz – KJHG) v. 26.6.1990 (BGBl. I S. 1163) – inhaltlich unverändert geblieben.
Lediglich durch die Neufassung des Achten Buches Sozialgesetzbuch v. 11.9.2012 (BGBl. I S. 2022) wurde die Vorschrift redaktionell mit Wirkung zum 1.1.2012 dahingehend geändert, dass die Worte "Absatz" und "Nummer" ausgeschrieben wurden (statt Abs. und Nr.).
1 Allgemeines
Rz. 1a
In dieser Bestimmung sind die in § 104 Abs. 1 Nr. 1 und 2 bezeichneten Ordnungswidrigkeiten entweder im Hinblick auf den Grad des Verschuldens und die gravierenden Folgen oder im Wiederholungsfall als Straftaten normiert.
In dem mit Inkrafttreten des SGB VIII Kinder- und Jugendhilfe zum 31.12.1990 außer Kraft getretenen Gesetz für Jugendwohlfahrt (JWG) waren ebenfalls bereits in §§ 86, 87 Strafvorschriften enthalten. Während die in § 86 JWG unter Strafe gestellte Entziehung eines Minderjährigen aus der Fürsorgeerziehung oder der Freiwilligen Erziehungshilfe im Hinblick auf die geänderte Gesetzeslage in § 105 nicht mehr enthalten ist, entspricht der nach dem geltenden Recht unter bestimmten Voraussetzungen strafbare Betrieb einer Einrichtung oder einer sonstigen Wohnform ohne Erlaubnis (§ 104 Abs. 1 Nr. 2) zumindest teilweise der vormals nach § 87 JWG strafbaren verbotenen Fortführung von Heimen. Die nach § 105 unter den angegebenen Voraussetzungen auch als Straftaten zu verfolgende Betreuung eines Kindes (Kindertagespflege) oder die Aufnahme eines Kindes oder eines Jugendlichen über Tag und Nacht (Vollzeitpflege) ohne Erlaubnis (§ 104 Abs. 1 Nr. 1) belegen, dass dem Schutz von Kindern und Jugendlichen vom Gesetzgeber ein gesteigerter Stellenwert zugemessen wird.
2 Rechtspraxis
2.1 Tatbestände
2.1.1 Grundtatbestände
Rz. 2
Abweichend von anderen Gesetzen hat der Gesetzgeber bei den Strafvorschriften nicht im Einzelnen angegeben, welche Verhaltensweisen als Straftaten zu ahnden sind. Vielmehr wird auf die in den "Grundtatbeständen" der Ordnungswidrigkeiten gemäß § 104 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 angegebenen Handlungen Bezug genommen und nur ergänzend angegeben, unter welchen Voraussetzungen dieses Verhalten eine Straftat ist. Die in § 104 Abs. 1 Nr. 3 und 4 genannten Verstöße gegen bestimmte Meldepflichten bzw. die Auskunftspflicht des Arbeitgebers betreffen Kinder und Jugendliche nicht unmittelbar und können – auch in Wiederholungsfällen – nicht als Straftaten verfolgt werden.
2.1.2 Leichtfertige schwere Gefährdung nach Nr. 1
Rz. 3
Die im "Grundtatbestand" vorsätzliche Betreuung eines Kindes oder die Aufnahme eines Kindes oder eines Jugendlichen über Tag und Nacht in seinem Haushalt ohne Pflegeerlaubnis (§ 104 Abs. 1 Nr. 1) oder der Betrieb einer Einrichtung ohne Erlaubnis (§ 104 Abs. 1 Nr. 2) wird als Straftat geahndet, wenn dadurch leichtfertig ein Kind oder ein Jugendlicher in seiner körperlichen, geistigen oder sittlichen Entwicklung schwer gefährdet wird. Voraussetzung ist mithin, dass der Täter den "Grundtatbestand" vorsätzlich verwirklicht und darüber hinaus (mindestens) leichtfertig die genannte schwere Gefährdung verursacht.
Rz. 3a
Leichtfertigkeit liegt vor, wenn der Täter grob achtlos handelt und nicht beachtet, was sich unter den Voraussetzungen seiner Erkenntnisse und Fähigkeiten aufdrängen muss. Weitere Voraussetzung für eine Straftat ist, dass durch das leichtfertige Verhalten eine schwere Gefährdung in der Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen verursacht worden ist. Eine schwere Gefährdung ist anzunehmen, wenn zu befürchten ist, dass in der Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen der normale Ablauf des körperlichen, geistigen oder sittlichen Reifungsprozesses dauernd oder nachhaltig gestört wird.
Rz. 3b
Der Straftatbestand erfordert daher nach Nr. 1 zwar die Erfüllung des Merkmals Leichtfertigkeit, fordert aber im Gegensatz zu der Nr. 2 ausdrücklich keine Vorsatztat. Damit wird gerade nicht eine vorsätzliche Begehung unter Strafe gestellt (auf den insoweit bestehenden Wertungswiderspruch weist zutreffend hin: Noak, HRRS 2016 S. 505).
Rz. 3c
Für die Erfüllung des Straftatbestandes ist weiter erforderlich, dass die schwere Gefährdung in einer Betreuungssituation von Kindern und Jugendliche ohne eine entsprechende Erlaubnis i. S. v. § 104 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 erfolgen muss; erfolgte die schwere Gefährdung daher trotz erteilter Erlaubnis, scheidet ein Straftatbestand nach Nr. 1 aus (dies ist zu Recht in der Literatur auf Kritik gestoßen, vgl. stellv.: Noak, HRRS 2016 S. 505); diese Beschränkung des Straftatbestandes auf eine Situation der schweren Gefährdung ohne entsprechende Erlaubnis verkürzt den Schutz des Kindes oder Jugendlichen in erheblichem Maße. Auch bei einer erlaubten Betreuung besteht ein ähnliches Strafbedürfnis zum Schutz des Kindeswohls.
2.1.3 Beharrliches Wiederholen nach Nr. 2
Rz. 4
Auch hier knüpft die Strafvorschrift an die "Grundtatbestände" des § 104 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 an und setzt zusätzlich voraus, dass die Handlung beharrlich wiederholt wor...