Rz. 4
Fraglich ist, ob der Gesetzgeber damit nur einen objektiven Rechtszustand herstellen möchte oder dem einzelnen jungen Menschen auch einen individuellen, gerichtlich durchsetzbaren Rechtsanspruch auf bestimmte Leistungen der Jugendarbeit einräumt. Denn mit der Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) korrespondiert noch nicht die subjektive Befugnis des Einzelnen, vom Staat oder einem anderen Träger öffentlicher Gewalt ein Tun, Dulden oder Unterlassen zu verlangen ("Anspruch", vgl. § 194 Abs. 1 BGB). Es existiert nämlich kein allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch (Erichsen, AllgVerwR, § 11 Rz. 30; Maurer, AllgVerwR, § 8 Rz. 14; Steffan, in: LPK-SGB VIII, § 11 Rz. 5; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 43 Rz. 10), mit dem die Befolgung der gesetzlichen Pflichten verlangt und im Klageweg erzwungen werden kann (Achterberg, AllgVerwR, 2. Aufl. 1986, § 20 Rz. 73; Schellhorn/Wienand, KJHG, § 11 Rz. 18).
Rz. 5
Ob die Vorschrift jedem jungen Menschen ein subjektiv-öffentliches Recht auf Leistungen der Jugendhilfe einräumt, bestimmt sich nach der sog. Schutzzweck- bzw. Schutznormlehre (st. Rspr., vgl. BVerwG, Beschluss v. 25.2.1954, I B 196.53; BVerwG, Urteil v. 30.9.1983, 4 C 74/78; BVerwG, Urteil v. 4.10.1988, 1 C 72/86; Erichsen, AllgVerwR, § 11 Rz. 31; Maurer, AllgVerwR, § 8 Rz. 8; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 43 Rz. 10 ff., 27). Danach liegt ein subjektiv-öffentliches Recht vor, wenn der Rechtssatz
- eine Verhaltenspflicht enthält,
- zumindest auch die Individualinteressen des Einzelnen befriedigen und nicht ausschließlich öffentliche Interessen verwirklichen soll und
- dem Einzelnen die Rechtsmacht einräumt, seine Individualinteressen (gerichtlich) durchzusetzen.
Rz. 6
Nach Abs. 1 Satz 1 ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe verpflichtet, Jugendarbeit anzubieten (Steffan, in: LPK-SGB VIII, § 11 Rz. 4). Diese Verhaltenspflicht dient "zumindest auch" Individualinteressen, wenn sie aufgrund individualisierender Tatbestandsmerkmale einen geschützten Personenkreis erkennen lässt, der sich von der Allgemeinheit unterscheidet (BVerwG, Urteil v. 28.4.1967, IV C 10.65; BVerwG, Urteil v. 13.6.1969, IV C 234.65; BVerwG, Urteil v. 16.3.1989, 4 C 36/85; VGH Kassel, Beschluss v. 20.10.1994, 11 TH 273/94; Erichsen, AllgVerwR, § 11 Rz. 32). Das ist vor allem dann der Fall, wenn der Normtext eine Gruppe von Begünstigten ausdrücklich benennt (BVerwG Urteil v. 19.9.1986, 4 C 8/84; OVG Münster, DVBl. 1976 S. 790, 791; Erichsen, a. a. O.) und so den Kreis der potenziell Berechtigten hinreichend abgrenzt. Diese Voraussetzung ist erfüllt, weil Abs. 1 Satz 1 ausdrücklich nur "junge Menschen" (§ 7 Abs. 1 Nr. 4) begünstigt, die im Bezirk des jeweiligen Jugendhilfeträgers wohnen (vgl. hierzu auch Steffan, in: LPK-SGB VIII, § 11 Rz. 4).
Dies verdeutlicht, dass der Gesetzgeber die Verhaltenspflicht in Abs. 1 Satz 1 nicht nur im allgemeinen Interesse, sondern zumindest auch im Individualinteresse einzelner junger Menschen geschaffen hat. Insofern dient die Norm dem Schutz gerade dieser spezifischen gesellschaftlichen Gruppe.
Rz. 7
Erkennt das Gesetz ein Individualinteresse an, so ist damit noch nicht automatisch die Rechtsmacht verbunden, dieses Interesse auch gerichtlich durchzusetzen (so richtig Erichsen, AllgVerwR, § 11 Rz. 33; vgl. auch Sachs, in: Stern, Staatsrecht Bd. III/1, 1988, § 65 II 3c, S. 535 ff.). Individuelle Durchsetzungsbefugnisse entstehen, wenn eine staatliche Handlung in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreift (Jarass/Pieroth, GG, 7. Aufl. 2004, Art. 19 Rz. 26). Geht es jedoch – wie hier – um Leistungsansprüche, so helfen die Grundrechte nicht weiter, weil sie in aller Regel als Abwehr- und nicht als Leistungsrechte konzipiert sind (Jarass/Pieroth, GG, Vorb. vor Art. 1 Rz. 5; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rz. 72). Ob § 11 Abs. 1 Satz 1 dem Einzelnen also die Rechtsmacht einräumt, einen Leistungsanspruch (gerichtlich) durchzusetzen, ist durch Auslegung zu ermitteln (BVerwG, Beschluss v. 20.7.1992, 7 B 186/91).
2.2.2.1 Sprachlich-grammatikalische Wortlautinterpretation
Rz. 8
Bei der sprachlich-grammatikalischen Wortlautinterpretation fällt zunächst auf, dass der Gesetzgeber den klaren und eindeutigen Begriff "Anspruch" nicht gewählt hat, was zunächst gegen die Existenz eines subjektiv-öffentlichen Rechts auf bestimmte Leistungen der Jugendarbeit spricht (vgl. Krug/Grüner/Dalichau, § 11 Anm. II. 1.). Stattdessen bestimmt er, dass die "erforderlichen Angebote … zur Verfügung zu stellen" sind. Wer gesetzlich verpflichtet ist, "Angebote" zu unterbreiten, räumt dem Empfänger des Angebots die Möglichkeit ein, sich durch Annahme des Angebots einen Rechtsanspruch zu verschaffen (sog. Kontrahierungszwang). Dies spricht eher für einen durchsetzbaren Leistungsanspruch (Mrozynski, ZfJ 1999 S. 403, 405). Gegen den Charakter des § 11 Abs. 1 Satz 1 als Anspruchsnorm lässt sich nicht anführen, dass der Gesetzgeber die Vorschrift im Plural gefasst hat (Mrozynski, a. a. O.; a. A. Kunkel, ZfJ 1997 S. 180). Denn dies geschieht im Sozialrecht häufig...