Rz. 72

Im Rahmen der nicht einvernehmlichen Übertragung der elterlichen Sorge auf den Antragsteller nach § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge dem Kindeswohl am besten entspricht. Für diese Prüfung sind folgende Grundsätze zu beachten:

 

Rz. 73

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung enthält die Neuregelung der elterlichen Sorge durch das am 1.7.1998 in Kraft getretene Kindschaftsrechtsreformgesetz kein Regel-Ausnahme-Verhältnis in dem Sinn, dass eine Priorität zugunsten der gemeinsamen elterlichen Sorge besteht und die Alleinsorge eines Elternteils nur in Ausnahmefällen als ultima ratio in Betracht kommt. Es besteht deshalb keine gesetzliche Vermutung dafür, dass die gemeinsame elterliche Sorge im Zweifel die für das Kind beste Form der Wahrnehmung elterlicher Verantwortung ist (BGH, Beschluss v. 29.9.1999, XII ZB 3/99; BVerfG, Beschluss v. 18.12.2003, 1 BvR 1140/03; BVerfG, Beschluss v. 29.5.2006, 1 BvR 430/03; OLG Frankfurt, Beschluss v. 22.3.2007, 3 UF 54/07; OLG Brandenburg, Beschluss v. 29.11.2007, 10 UF 82/07; OLG Hamm, Beschluss v. 23.3.2006, 4 UF 294/05). Das ist sicherlich richtig, da ein im Interesse des Kindes tragfähiger Konsens kaum erzwungen werden kann. Die gemeinsame elterliche Sorge ist gleichwohl der normative Regelfall, von dem nur insoweit abgewichen werden darf, als aus Gründen des Kindeswohls eine Einschränkung des verfassungsrechtlich geschützten Sorgerechts (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) eines Elternteils gerechtfertigt ist (vgl. BVerfG, Beschluss v. 1.3.2004, 1 BvR 738/01; Diederichsen, in: Palandt, BGB, § 1671 Rz. 17).

 

Rz. 74

Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung setzt die gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern voraus. Diese erfordert ein Mindestmaß an Übereinstimmung und muss sich am Kindeswohl ausrichten. Fehlt es daran, ist die gemeinsame elterliche Sorge aufzuheben (BVerfG, Beschluss v. 1.3.2004, 1 BvR 738/01; OLG Frankfurt, Beschluss v. 22.3.2007, 3 UF 54/07; OLG Köln, Beschluss v. 20.11.2007, 4 UF 209/07).

 

Rz. 75

Nach dem in § 1671 Abs. 1 BGB zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darf die gemeinsame elterliche Sorge jedoch nicht umfassend aufgehoben werden, wenn ein unüberbrückbarer Dissens nur in einem Teilbereich elterlicher Sorge, insbesondere bei der Aufenthaltsbestimmung, festzustellen ist, im Übrigen aber ein Mindestmaß an Übereinstimmung zwischen den Eltern besteht. In diesen Fällen reicht es aus, den streitigen Teilbereich dem Antragsteller zur alleinigen Ausübung zu übertragen, wenn dies dem Kindeswohl am besten entspricht (BVerfG, Beschluss v. 1.3.2004, 1 BvR 738/01; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 1.3.2004, 8 UF 51/03; OLG Dresden, Beschluss v. 9.2.2007, 20 UF 799/06; OLG Köln, Beschluss v. 26.9.2006, 4 UF 138/06; OLG Hamm, Beschluss v. 23.3.2006, 4 UF 294/05). Diese Linie der höchstrichterlichen Rechtsprechung entspricht dem Konfliktlösungsmodell des § 1628 BGB. Unterhalb der hohen Schwellen der Verfahren nach §§ 1666, 1671 BGB sollen Regelungen gefunden werden, die zugunsten des Kindes eine gemeinsame elterliche Sorge soweit möglich aufrechterhalten.

Auf der Grundlage vorstehender Prinzipien haben sich in der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung folgende Fallgruppen herausgebildet:

 

Rz. 76

  • Gewalt in der Beziehung der Eltern

    Ist ein Elternteil Opfer massiver Gewalteinwirkungen des anderen Elternteils, kann mangels tragfähiger sozialer Beziehung die gemeinsame elterliche Sorge nicht aufrechterhalten werden (vgl. BVerfG, Beschluss v. 18.12.2003, 1 BvR 1140/03). Ein einmaliger Gewaltvorfall in der Trennungsphase führt dagegen nicht zwangsläufig zu der Einschätzung, die Kommunikationsbasis der Eltern sei grundlegend gestört und der Antragsgegner zur Erziehung des Kindes ungeeignet (OLG Karlsruhe, Beschluss v. 23.4.2002, 5 UF 29/02). Ob der Vorwurf der Gewaltanwendung der Wahrheit entspricht, wird bei fehlender Dokumentation (Polizeibericht, ärztliche Stellungnahme) nicht ohne weiteres feststellbar sein. Allein der Umstand, dass das (vermeintliche) Opfer zu einem Anhörungstermin des Familiengerichts nicht erscheint, macht dessen Angaben aber nicht unglaubhaft (OLG Brandenburg, Beschluss v. 7.3.2007, 10 WF 53/07). Denn das Nichterscheinen kann auf der Angst beruhen, sich mit dem (vermeintlichen) Täter in einem Raum aufhalten zu müssen.

 

Rz. 77

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