2.1.4.1 Erziehungsgefährdung – erzieherischer Bedarf – Mangellage
Rz. 23
Ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung setzt voraus, dass eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist; erforderlich ist das Vorliegen einer erzieherischen Mangellage (Nellissen, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 27 Rz. 41); Hilfe zur Erziehung setzt daher ein Erziehungsdefizit voraus (zutreffend und instruktiv: VG Freiburg, Urteil v. 10.2.2022, 4 K 1608/21). Entscheidend für den Anspruch auf Hilfe zur Erziehung ist der erzieherische Bedarf, der als Kehrseite zur Mangellage besteht; um die Mangellage auszugleichen, muss ein erzieherisches Einwirken (erzieherischer Bedarf) erforderlich sein (Nellissen, a. a. O., Rz. 48). Wann dies der Fall ist, wird im Gesetz nicht näher konkretisiert. Zwar erfolgte die Festlegung der Mindestvoraussetzungen vom Gesetzgeber bewusst offen und in allgemeiner Form, in der Praxis ist jedoch immer wieder feststellbar, dass insbesondere die Fokussierung auf den unbestimmten Rechtsbegriff Kindeswohl eine Tendenz zu bisweilen restriktiver, häufig genug auch nicht genügend objektivierter Auslegung befördert. Hilfestellung bei der Auslegung bietet hier zunächst ein Rückgriff auf die Kriterien, welche die Rechtsprechung der Familiengerichte in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben, um zu vermeiden, dass sich Beurteilungen nur auf den sog. gesunden Menschenverstand stützen. Demnach kann Kindeswohl unter Einbeziehung der Erkenntnisse der Verhaltensbiologie, Kinderpsychologie, Medizin, Sozialwissenschaft und Rechtsprechung auf folgende Kriterien gestützt werden: Bindungen des Kindes, Wille des Kindes, Betreuungs- und Erziehungskontinuität, Förderungsmöglichkeiten und weitestgehende Freiheit von Angst, Belastung und Konflikten (vgl. etwa BGH, Beschluss v. 11.7.1984, IVb ZB 73/83).
Maßgeblich ist insofern, dass die Grundbedürfnisse des Kindes wie Liebe, Akzeptanz, stabile Bindungen, Versorgung, Körperpflege, Gesundheitsfürsorge, Schutz vor Gefahren und geistige und soziale Bildung, die für die Erziehung zu einer verantwortungsvollen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit bedeutsam sind, erfüllt werden (OVG Lüneburg, Beschluss v. 13.9.2019, 10 LA 321/18, wonach gerade nicht jede Mangelsituation im außererzieherischen Umfeld eines Kindes einen erzieherischen Bedarf begründet; mit Anm. von Nellissen, jurisPR-SozR 21/2019 Anm. 6). Das SGB VIII will bewusst präventive Hilfe bereits im Vorfeld anbieten. Durch Anbieten von Hilfen sollen Krisensituationen abgefedert und die Erziehungssituation der Eltern unterstützt werden, damit familienrechtliche Eingriffe nach Möglichkeit gar nicht erst erforderlich werden.
Eine dem Kindeswohl entsprechende Erziehung ist dann nicht gewährleistet und eine entsprechende Mangellage daher dann gegeben, wenn mit Blick auf das Erziehungsziel eine Fehlentwicklung bzw. ein Rückstand oder ein Stillstand der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes oder des Jugendlichen droht oder bereits eingetreten ist (Nellissen, a. a. O., Rz. 43). Daher dürfen an diese Grundvoraussetzung keine überzogenen Anforderungen gestellt werden. Eine weite, niedrigschwellige Auslegung des Begriffs Kindeswohl ist geboten. Für die nicht zu gewährleistende Erziehung muss es genügen, dass etwa die zur Verfügung stehende Erziehungsleistung – aus welchen Gründen auch immer – nicht ausreicht, um eine Pflege und Erziehung sicherzustellen, bei welcher das gesunde Aufwachsen und die angemessene Förderung garantiert ist. Maßstab ist insoweit auch die Zielsetzung der Jugendhilfe, wie sie in § 1 Abs. 1 formuliert ist (hierauf stellt ausdrücklich und zutreffend auch ab Nellissen, a. a. O., Rz. 42; Stähr, in: Hauck/Noftz, Stand: 10/2006, 35. Ergänzungslieferung 2023, § 27 SGB VIII Rz. 21). Die familiäre Erziehung ist also im Hinblick darauf zu prüfen, ob sie geeignet ist, dass sich das Kind bzw. der Jugendliche zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entwickeln kann. Es ist eine Prognose vorzunehmen, ob die Erziehungsbedingungen im Hinblick auf diese Ziele ausreichend sind. Hilfen nach §§ 27 ff. sind daher bereits zu gewähren, wenn ein Sorgerechtseingriff noch nicht zulässig wäre, gleichwohl aber erkennbar ist, dass der Erziehungsbedarf eines Kindes nicht gedeckt ist. Hilfe ist unabhängig von der Frage zu gewähren, ob die Gefährdung von den Eltern ausgeht oder ob diese aufgrund äußerer Umstände oder eines unverschuldeten Versagens nicht in der Lage sind, die Gefährdung von dem Kind fernzuhalten.
Rz. 24
Kritisch wird gegen eine weite Auslegung teilweise eingewendet, dass dies überzogene Kontrolle bedeuten könne. Dem ist entgegenzuhalten, dass dieses Risiko vor dem Hintergrund der Zielsetzung des Schutzes des Kindeswohls zum einen hinzunehmen ist, zum anderen stehen hier mit den beiden weiteren in Abs. 1 genannten Kriterien der Geeignetheit und der Notwendigkeit der Hilfe ausreichende Korrektive zur Verfügung.
Rz. 25
Anlässe für eine solche Mangellage können sein, der Ausfall der Erziehungsleistung eines Elter...