Rz. 27
Es ist für eine Hilfegewährung nicht ausreichend, dass eine kindeswohlentsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist. Voraussetzung ist weiter, dass die Hilfe für die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen geeignet und notwendig ist (vgl. stellv. BVerwG, Urteil v. 9.12.2014, 5 C 32/13, Rz. 18 zum Begriff der Geeignetheit, Rz. 21 zum Begriff der Notwendigkeit; vgl. dem folgend auch OVG Lüneburg, Beschluss v. 25.3.2020, 10 LA 292/18, Rz. 14). Bei der Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer Jugendhilfemaßnahme handelt es sich um das Ergebnis eines kooperativen sozialpädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des jungen Menschen und mehrerer Fachkräfte (vgl. § 36), das nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern nur eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten muss, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 12.4.2021, 12 E 131/21). Jugendhilfeleistungen – wie etwa Hilfe zur Erziehung (§ 27) oder auch Eingliederungshilfe (§ 35a) – bauen regelmäßig auf einer Jugendhilfeplanung (§ 36) auf und sind an einem vom Jugendhilfeträger konkret festgestellten Hilfebedarf auszurichten und damit individuell zugeschnitten (vgl. stellv. BVerwG, Urteil v. 23.10.2018, 5 C 15/17 Rz. 21; vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 28.4.2021, 12 A 1753/18 Rz. 14). Zwar unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Hilfemaßnahme nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung einem kooperativen, sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung des betroffenen Hilfeempfängers und der Fachkräfte des Jugendamtes, sodass regelmäßig eine bestimmte Hilfe zur Erziehung im Eilverfahren (§ 123 Abs. 1 VwGO) ohne durchgeführtes Hilfeplanverfahren nicht erstritten werden kann. Der Träger der Jugendhilfe kann aber grundsätzlich in einem Eilverfahren auch verpflichtet werden, unverzüglich den tatsächlichen aktuellen Hilfebedarf eines Antragstellers im Rahmen eines Hilfeplanverfahrens (§ 36) festzustellen (VG München, Beschluss v. 26.7.2023, M 18 E 23.2881).
Hierbei sind etwaige Vorgaben der Familiengerichte zu beachten, jedoch nicht bindend. Denn die Zivilgerichte haben insoweit keine kinder- und jugendhilferechtliche Entscheidungsbefugnis. Die Jugendhilfeträger müssen die gesetzlichen Voraussetzungen der Hilfegewährung ergänzend, eigenständig und eigenverantwortlich prüfen (BVerwG, Urteil v. 21.6.2001, 5 C 6.00; so auch Mrozynski, SGB VIII, § 27 Rz. 16 m. w. N.; a. A. OLG Frankfurt, Beschluss v. 3.11.1992, 20 W 71/93). Nach der Rechtsprechung des BVerwG (a. a. O.) unterliegt die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Jugendhilfe zu gewähren ist, nicht der Entscheidungskompetenz der Zivilgerichte. Im Streitfall ist eine Entscheidung von den Verwaltungsgerichten überprüfbar und ggf. erzwingbar (vgl. auch DIJuF-Rechtsgutachten v. 9.8.2004, JAmt 2004, 420). Dies hat der Gesetzgeber nunmehr auch in § 36a ausdrücklich klargestellt.
Rz. 28
Für die Ermittlung der unbestimmten Rechtsbegriffe der Geeignetheit und Notwendigkeit ist eine Prognoseentscheidung notwendig. Bei der Auslegung der Begriffe sind die Zielsetzungen der Vorschrift zugrunde zu legen. Es ist zu prüfen, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet wurden, keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und ob die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt wurden. Die Entscheidung über Art, Umfang und Dauer der Hilfeleistung hängt grundsätzlich von der Beurteilung der Notwendigkeit der Hilfe aufgrund der individuellen Situation des Hilfesuchenden ab und wird davon inhaltlich geprägt. Soweit das Jugendamt allgemein über die Voraussetzungen der Hilfe zur Erziehung entscheidet (über das "Ob" und nicht das "Wie") steht dem Jugendamt kein Beurteilungsspielraum zu (vgl. zum Prüfungsmaßstab VG Aachen, Beschluss v. 25.9.2006, 2 L 416/06 unter Bezugnahme auf BVerwG, Urteil v. 24.6.1999, 5 C 24.98; so auch Stähr, in: Hauck/Noftz, Stand: 10/2006, 35. Ergänzungslieferung 2023, § 27 SGB VIII Rz. 25; vgl. insoweit aber zum eröffneten Beurteilungsspielraum bei der Auswahl der konkreten Hilfeart und damit auch zur Doppelfunktion dieser Anspruchsvoraussetzungen auch für die Hilfeartentscheidung Rz. 31 zu Hilfearten nach Abs. 2 – Beurteilungsspielraum).
Rz. 29
Geeignet ist demnach jede Hilfe, welche ein taugliches Mittel ist, die gefährdete Erziehung sicherzustellen und festgestellte Defizite auszugleichen (Nellissen, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 27 Rz. 54). Geeignet ist diejenige Hilfeart, die prognostisch die Einschätzung erlaubt, dass mit ihr am besten die jeweilige erzieherische Mängellage behoben werden kann (Stähr, in: Hauck/Noftz, Stand: 10/2006, 35. Ergänzungslieferung 2023, § 27 SGB VIII Rz. 28). Dabei kann sich jedoch im laufenden Hilfeplanprozess herausstellen, dass die ursprünglich gewählte und geeignete Hilfemaßnahme durch eine später tauglichere M...