2.1.1 Zweck der Vollzeitpflege
Rz. 4
Zweck der Vollzeitpflege ist die Kompensation des Entwicklungsdefizits des Kindes oder des Jugendlichen in der eigenen Familie durch die Unterbringung außerhalb der Herkunftsfamilie. Die Vollzeitpflege ersetzt damit die Erziehung der leiblichen Eltern für einen bestimmten Zeitraum und bietet dem Kind Betreuung, Erziehung und Förderung. Darin erschöpft sich auch regelmäßig der Zweck; die Hilfe erfolgt allein im Interesse des Hilfebedürftigen und entfaltet gegenüber dem tatsächlichen Leistungserbringer keinen Drittschutz; hier ausdrücklich für die Gewährung der Vollzeitpflege Bay. VGH, Beschluss v. 24.10.2022, 12 CE 22.1860.
2.1.2 Anspruchsvoraussetzungen
Rz. 5
Die Grundvoraussetzungen des § 27 Abs. 1 müssen erfüllt sein; insbesondere darf daher die Erziehung nicht gewährleistet sein. Wie bei allen anderen Hilfearten auch ist Kernvoraussetzung die Geeignetheit und Notwendigkeit der Maßnahme i. S. der in § 27 Abs. 1 aufgestellten Voraussetzungen mit Doppelfunktion (zu den Voraussetzungen insoweit vgl. auch bei Nellissen, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 33 Rz. 22). Die Geeignetheit ist daher nicht nur allgemein, sondern im Hinblick auf die konkrete Form der Hilfe zu überprüfen. Wie bei allen Hilfearten besitzt der Jugendhilfeträger bei der Entscheidung darüber, welche Hilfeart im Einzelfall geeignet und notwendig ist, einen Beurteilungsspielraum (zur Verengung und Anspruchsbegründung auf die konkrete Maßnahme vgl. Rz. 8a), der nur eingeschränkt verwaltungsgerichtlich überprüfbar ist (vgl. hierzu näher die Komm. zu § 27 unter dem Abschnitt Hilfearten nach Abs. 2 – Beurteilungsspielraum). Die Soll-Formulierung in der Vorschrift ist auf die Aufgabenstellung der Hilfe bezogen, sie kennzeichnet jedoch die Hilfe nicht als Soll-Leistung; es besteht vielmehr ein Rechtsanspruch (Stähr, in: Hauck/Noftz, Stand: 01/2019, Werkstand 2023, § 33 SGB VIII Rz. 5). Weiterhin ist auch ein Antrag – jedenfalls aber eine entsprechend bekundete Willenserklärung – erforderlich (vgl. hierzu Komm. zu § 27 unter dem Abschnitt Antragserfordernis). Bei der Maßnahme müssen insbesondere die Regeln der Verhältnismäßigkeit beachtet werden (vgl. Rz. 5 ff.).
Rz. 6
Anlässe der Unterbringung in einer Pflegefamilie können z. B. sein: Unvollständigkeit der Familie wegen Trennung der Eltern, Krankheit bzw. Tod eines oder beider Eltern, wirtschaftliche Notlagen, Alkohol- und Drogenprobleme, schwerwiegende Vernachlässigung über Jahre, Gewalt gegen Kinder, sexueller Missbrauch (Stähr, in: Hauck/Noftz, Stand: 01/2019, Werkstand 2023, § 33 SGB VIII Rz. 11).
2.1.3 Verhältnismäßigkeit
Rz. 7
Bei der Fremdunterbringung handelt es sich um einen der stärksten Eingriffe in das Elternrecht. Vor der Vollzeitpflege wird daher sorgfältig aufzuklären sein, ob nicht andere Maßnahmen ausreichend sind, um die Gefährdungen aufzufangen. Dies folgt nicht zuletzt aus der allgemeinen Voraussetzung des § 27, wonach Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege geeignet und notwendig sowie eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet sein muss.
Rz. 8
Es gilt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind die – auch in § 27 normierten Kriterien – der Geeignetheit und der Erforderlichkeit (= Notwendigkeit) zu prüfen; außerdem erlangt das Prüfungsmerkmal der Angemessenheit im engeren Sinne besondere Bedeutung. Die Hilfe zur Erziehung ist geeignet, wenn sie in ihrer Art grundsätzlich tauglich ist, den bestehenden erzieherischen Bedarf im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen zu decken (Nellissen, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 27 Rz. 38). Der Begriff der Notwendigkeit knüpft an die Formulierung des § 6 Abs. 1 JWG. Notwendig ist die Hilfe, wenn sie erforderlich ist, um eine dem Wohl des Minderjährigen entsprechende Erziehung zu gewährleisten (Stähr, in: Hauck/Noftz, Stand: 10/2006, § 27 SGB VIII Rz. 30), die konkrete Hilfe also zur Bedarfsdeckung erforderlich ist, weil andere Leistungen oder Maßnahmen des SGB VIII, die Hilfe Dritter oder Eigenhilfe der Eltern nicht ausreichen, um den festgestellten erzieherischen Bedarf zu decken; sog. Mangellage (Nellissen, a. a. O., Rz. 41). Angemessenheit im engeren Sinne liegt letztlich dann vor, wenn der erstrebte Zweck und der damit verbundene Eingriff im Verhältnis zu den Belastungen und Eingriffen in die Rechte der Beteiligten – also des Kindes und der Eltern – nicht außer Verhältnis stehen.
Rz. 8a
Ein Anspruch auf Vollzeitpflege kann sich nur dort ergeben, wo sich der Beurteilungsspielraum (vgl. Rz. 5) bei der Festlegung der Hilfe auf eine oder mehrere gleichermaßen geeignete und notwendige Maßnahmen verengt hat (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v 5.4.2022, 12 A 3242/20 Rz. 11, hier verneinend hinsichtlich der Unterbringung im Haushalt der Großmutter nach § 33).
Rz. 9
Fremdunterbringung ist dabei aber nicht als "ultima Ratio" i. S. eines Anspruchs erst nach "Ausprobieren" anderer ambulanter Hilfen zu verstehen. Sie kann im Einzelfall von Anfang ...