2.2.1 Überblick
Rz. 40
Vollzeitpflegeverhältnisse spielen in der gerichtlichen Praxis, und zwar sowohl der familiengerichtlichen als auch der verwaltungsgerichtlichen Praxis, eine zahlenmäßig große Rolle. Denn das Aufeinandertreffen der Förderung und Unterstützung der leiblichen Eltern einerseits und den entwicklungspsychologischen Folgen des Aufwachsens eines Kindes in einer Pflegefamilie andererseits liefern erheblichen Zündstoff. Abhängig vom Alter des Kindes und der Pflegedauer fallen Sorgerechtsstatus und soziale Zuordnung eines Kindes oftmals auseinander (vgl. auch BT-Drs. 11/5948). Denn Pflegeeltern werden nach entsprechender Pflegedauer die psychologischen, sozialen bzw. faktischen Eltern eines Pflegekindes. Eine Eltern-Kind-Bindung entsteht. Es kommt dann zum Konflikt zwischen den Rechten der leiblichen Eltern, den Interessen des Kindes und den Pflegeeltern. Diese Konflikte können die jugendhilferechtliche Arbeit beeinträchtigen oder im schlimmsten Fall völlig bestimmen und zunichte machen. Oft genug wird der Konflikt daher gerichtlich ausgetragen. Die Vorschrift muss daher auch in ihrem Zusammenhang mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Bindungsforschung und familienrechtlichen Regelungen gesehen werden. Damit stehen insbesondere bei den Vollzeitpflegeverhältnissen die Interessen in einem Spannungsverhältnis zwischen dem verfassungsrechtlich garantierten Sorgerecht der Eltern nach Art. 6 GG, dem Kindeswohl und den Interessen der Pflegeperson in der Vollzeitpflegestelle, die sich ebenfalls zumindest partiell auf Art. 6 GG berufen kann (vgl. zu den insoweit gegenläufigen Entscheidungen des BVerfG zur Rechtsstellung der Pflegeperson in Bezug auf Art. 6 GG ablehnend insoweit BVerfG, Entscheidung v. 12.10.1988, 1 BvR 818/88, bejahend insoweit BVerfG, Entscheidung v. 18.5.1993, 1 BvR 338/90; vgl. auch bei Nellissen, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 33 Rz. 46). Des Weiteren steht § 33 im Spannungsverhältnis zum Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK (zur verfassungsrechtlichen Bedeutung der Vollzeitpflege vgl. insgesamt auch bei Nellissen, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 33 Rz. 19).
2.2.2 Erkenntnisse der Bindungsforschung
Rz. 41
Die Situation der Pflegekinder ist in einer Vielzahl der Fälle davon gekennzeichnet, dass ihr Sorgerechtsstatus und ihre soziale Zuordnung auseinanderfallen (so bereits die gesetzgeberischen Überlegungen, vgl. BT-Drs. 11/5948 S. 71. Der Gesetzgeber hat punktuell versucht, die spezielle Situation der Pflegekinder zu verbessern, etwa durch Schaffung der §§ 1630 Abs. 3, 1632 Abs. 4 BGB (auf diese beiden Möglichkeiten hatte der Gesetzgeber bereits ausdrücklich mit der Schaffung der Vorschrift verwiesen, vgl. BT-Drs. 11/5948 S. 71, der auch darauf hinwies, dass eine umfassende Regelung bis dato ausstand und auch betonte, dass aufgrund der unterschiedlichen Bedingungen sowohl in der Herkunftsfamilie als auch in der Pflegefamilie es praktisch unmöglich war, unterhalb des Status eines Adoptivkinds einen eigenständigen Status des Pflegekinds zu schaffen, der den verschiedenen Konstellationen gerecht wird) oder des § 1688 BGB oder der Möglichkeit der Beteiligung von Pflegepersonen in familiengerichtlichen Verfahren (§ 161 FamFG). Flankiert wird § 1688 BGB darüber hinaus von § 38 – Vermittlung bei der Ausübung der Personensorge. § 38 ordnet an, dass das Jugendamt einzuschalten ist, wenn der Inhaber der Personensorge durch eine Erklärung nach § 1688 Abs. 3 Satz 1 BGB die Vertretungsmacht der Pflegeperson soweit einschränkt, dass eine förderliche Erziehung nicht mehr möglich ist oder sonstige Meinungsverschiedenheiten auftreten (vgl. Komm. zu § 38). Insbesondere § 1632 Abs. 4 BGB (Verbleibensantrag) wurde ins Gesetz eingefügt, um die neu entstandenen Bindungen eines Pflegekindes an seine Pflegeeltern notfalls auch gegen die Herkunftsfamilie zu schützen. Hintergrund sind die inzwischen unstreitigen Erkenntnisse der Bindungsforschung. Demnach kommt anerkanntermaßen eine Eltern-Kind-Bindung im täglichen Zusammenleben, aus der täglichen Befriedigung kindlicher Bedürfnisse nach Nahrung, Pflege, körperlichem und psychischem Kontakt zustande. Auf Seiten des neugeborenen Kindes besteht die Bereitschaft, die elementare Eltern-Kind-Bindung zu jedem Menschen herzustellen, der die Elternfunktion in dem hier umschriebenen Sinne übernimmt. Ein Kind ist dabei in keiner Weise auf seine leiblichen Eltern fixiert. Ein Abbruch dieser Beziehung in den ersten Lebensjahren kann jedoch die kindliche Entwicklung schädigen, indem sie dem Kind die Basis für seine Orientierung entzieht. Eine besondere Trennungsempfindlichkeit besteht für Kinder zwischen etwa 6 Monaten und 7 Jahren konstatiert, mit einer hochsensiblen Phase zwischen 6 Monaten und 3 Jahren. Eine Verbleibensanordnung zum Wohle des Kindes ist daher geboten, wenn dieses zur Zeit seiner Unterbringung noch nicht 3 Jahre alt war, nach maximal 12 Monaten Pflegedauer; zwischen 3 und 6 Jahren nach maximal 24 Monaten Pflegedauer, wobei eine gerichtl...