Rz. 2
Ziel der Eingliederungshilfe i. S. d. § 35a ist es, den Betroffenen bei einer bestehenden seelischen Behinderung nach Möglichkeit wieder in die Gesellschaft einzugliedern, bzw. bei einer drohenden seelischen Behinderung dessen Ausgliederung zu vermeiden (zur Zielsetzung vgl. auch Münder, § 35a SGB VIII, Rz. 62; Wiesner, § 35 a SGB VIII Rz. 99, der die Zielsetzung noch ergänzt um die Aspekte Ausübung eines angemessenen Berufs und Unabhängigkeit von der Pflegebedürftigkeit). Die Vorschrift verfolgt damit eine Integrationsperspektive zugunsten des seelisch behinderten Kindes. Bei der Eingliederungshilfe handelt es sich um einen gebundenen Anspruch auf Erfüllung und nicht um eine Ermessensleistung. § 35a eröffnet daher kein Entschließungsermessen. Der Leistungsträger hat kein Ermessen hinsichtlich des "Ob" der Leistungserbringung (v. Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 35a Rz. 21; liegen die Voraussetzungen der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe i. S. d. § 35a Abs. 1 vor, so ist das betroffene Kind oder der betroffene Jugendliche grundsätzlich anspruchsberechtigt; nur bei der Auswahl der geeigneten Hilfeleistung besteht ein Beurteilungsspielraum (vgl. insoweit Abschnitt Hilfeleistungen nach Abs. 2 Nr. 1 bis 4 in Rz. 39 ff.). Nach § 17 SGB I, der auch auf die Vorschriften des Kinder- und Jugendhilferechts anzuwenden ist, sind die Leistungsträger verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und zügig erhält (§ 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I). Dies gilt auch für die rechtzeitige und ausreichende Zurverfügungstellung sozialer Dienste und Einrichtungen (§ 17 Abs. 1 Nr. 2 SGB I). Angesichts der Kostensteigerungen im Bereich der Jugendhilfe haben zwar beim Vollzug der Vorschrift und der Frühförderung einige Kommunen Leistungsbudgetierungen eingeführt. Die Budgetierungen beeinflussen aber nicht die Anspruchsqualität, sofern in der Person des Anspruchsstellers die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind. Die Verweigerung oder die vorübergehende Nichtgewährung der Eingliederungshilfe wegen eines Ausgabenbudgets verbietet sich daher ebenso wie lange Wartezeiten. Gerade Jugendhilfeleistungen dienen der Deckung eines aktuellen, erzieherischen oder rehabilitativen Bedarfs und sind daher rechtzeitig zu gewähren.
Rz. 3
Mit dem Bundesteilhabegesetz i. d. F. v. 23.12.2016, gültig ab 1.1.2020, wurde die personenzentrierte Neuausrichtung der Eingliederungshilfe – weg von der einrichtungszentrierten Sichtweise – abgeschlossen (vgl. zur Neuausrichtung des Regimes der Eingliederungshilfe mit der Überführung vom SGB XII in das SGB IX, BT-Drs. 18/9522 S. 194, 197). Dabei hat die personenzentrierte Gestaltung der Rehabilitation und der Leistungen zur Teilhabe insbesondere ihren Niederschlag in § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gefunden, der die Rehabilitationsträger verpflichtet, die trägerübergreifende Zusammenarbeit zu gestalten und zu organisieren, um eine einheitliche personenzentrierte Gestaltung der Rehabilitation und der Leistungen zur Teilhabe im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft nach § 94 SGB X zu gewährleisten. Die notwendige Unterstützung des Menschen mit Behinderungen orientiert sich mit dem SGB IX ab dem 1.1.2020 nicht mehr an einer bestimmten Wohnform. Die Charakterisierung von Leistungen in ambulante, teilstationäre und stationäre Maßnahmen der Eingliederungshilfe wird aufgehoben. Die notwendige Unterstützung soll sich – im Lichte insbesondere von Art. 19 UN-BRK – unter ganzheitlicher Perspektive ausschließlich an dem individuellen Bedarf orientieren (BT-Drs. 18/9522 S. 197); vor dem Hintergrund dieser personenzentrierten Ausrichtung der Eingliederungshilfe müssen die Leistungsberechtigten in allen Schritten der Leistungsgewährung und -erbringung ganzheitlich in den Blick genommen werden.
Rz. 4
Mit dem Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG) v. 3.6.2021 (BGBl. I S. 1444) wurde die Überschrift der Vorschrift mit Wirkung zum 10.6.2021 neu gefasst und damit an die aktuellen Begrifflichkeiten angepasst (BR-Drs. 5/21 S. 79 = BT-Drs. 19/26107 S. 83).
Rz. 5
Anspruchssteller ist das Kind bzw. der Jugendliche (Wiesner, § 35a SGB VIII, Rz. 15); nicht etwa – wie bei der Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27 ff. – der Personensorgeberechtigte (zutreffend v. Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 35a Rz. 21). Die Begriffe Kind und Jugendlicher definiert § 7. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 ist Kind, wer noch nicht 14 Jahre alt ist; nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 ist Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Eltern handeln – soweit das Kind i. S. d. § 36 Abs. 1 SGB I vor Vollendung des 15. Lebensjahres noch nicht sozialrechtlich handlungsfähig ist – allenfalls als Sorgeberechtigte in Vertretung des minderjährigen Kindes nach §§ 1626, 1629 BGB. Die Vertretung des Kindes nach § 1629 Abs. 1 BGB erfolgt insoweit im Rahmen der Personensorge nach § 1626 Abs. ...