Rz. 8
§ 35 a Abs. 1 nennt 2 Anspruchsvoraussetzungen. Zum einen muss das Kind oder der Jugendliche in seiner seelischen Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweichen – die sog. seelische Störung – und zum anderen muss infolgedessen seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung muss zu erwarten sein – sog. Funktionsbeeinträchtigung oder Teilhabebeeinträchtigung. Die Tatbestandsvoraussetzungen in Nr. 1 und 2 müssen kumulativ erfüllt sein; sie stellen zwei ineinandergreifende Voraussetzungen dar und spiegeln die Zweigliedrigkeit des Behindertenbegriffs wider, wie sie auch der Generalnorm des § 2 Abs. 1 SGB IX innewohnt (auf diese Zweigliedrigkeit weist zutreffend auch hin Stähr, in: Hauck/Noftz, Stand: 06/2020, Werkstand: 2023, § 35a SGB VIII Rz. 9; vgl. auch instruktiv VG Saarlandes, Beschluss v. 6.2. 2018, 3 L 38/18). Die seelische Störung muss die Funktionsbeeinträchtigung (teilweise auch als Teilhabebeeinträchtigung bezeichnet) kausal bedingen (zum Erfordernis der Kausalität vgl. auch Stähr, in: Hauck/Noftz, a. a. O., Rz. 10). Die seelische Störung, die zur Funktionsbeeinträchtigung führt, stellt dann die seelische Behinderung i. S. d. Anspruchsvoraussetzung des § 35 a dar; die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen erfolgt daher zweigliedrig (Wiesner, § 35a SGB VIII, Rz. 6; zum zweigliedrigen Behinderungsbegriff vgl. auch v. Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 35a Rz. 20). Die seelische Störung muss die Funktionsbeeinträchtigung kausal bedingen. Die Beweislast liegt regelmäßig beim Anspruchssteller.
Rz. 9
Die seelische Störung nach Nr. 1 ist eine anhaltende seelisch gesundheitliche Abweichung vom jeweils dem Lebensalter typischen Gesundheitszustand, die ihre Ursache regelmäßig in einer psychischen Erkrankung hat (zur Definition vgl. auch Münder, § 35a SGB VIII Rz. 18; zum Begriff "Abweichen der seelischen Gesundheit" vgl. stellv. auch Sächs. OVG, Beschluss v. 21.3.2023, 3 B 319/22). Die Beurteilung, ob eine seelische Behinderung/Störung i. S. v. § 35 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 vorliegt, ist dabei regelmäßig Aufgabe von Ärzten oder Psychotherapeuten (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 22.4.2021, 12 B 483/21, Rz. 9; Sächs. OVG, Beschluss v. 20.2.2015, 4 A 128/14 Rz. 5; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 15.10.2014, 12 B 870/14 Rz. 19). Diese Entscheidungsbefugnis ist namentlich abzugrenzen von der Entscheidungsbefugnis hinsichtlich der Funktionsbeeinträchtigung, die beim Jugendhilfeträger liegt (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 15.10.2014, 12 B 870/14 Rz. 19; vgl. hierzu Rz. 8). So fällt die Einschätzung, ob die Teilhabe des jungen Menschen am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist bzw. eine solche Beeinträchtigung droht, in die Kompetenz sozialpädagogischer Fachlichkeit und somit in den originären Aufgabenbereich des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 22.4.2021, 12 B 483/21 Rz. 9); eine gegenteilige medizinische Einschätzung bindet daher den Jugendhilfeträger bei der Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigung nicht. Dabei kommt es auf das Ausmaß und den Grad der seelischen Störungen an. Entscheidend ist, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 12.6.2014, 12 A 659/14 Rz. 7; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 19.12.2007, 12 A 2966/07; zur Funktionsbeeinträchtigung vgl. auch unten Rz. 8). Angesichts des vorgegebenen Zeitraumes von mehr als 6 Monaten, den dieser Zustand andauern muss, ist auch mit der Neufassung v. 1.7.2001 bei der Abweichung des seelischen Gesundheitszustandes von einem chronifizierten Krankheitszustand auszugehen. Der Begriff seelisch gesundheitliche Abweichung ist insoweit identisch mit dem alten Begriff der seelischen Störungen; auf die Rechtsprechung vor der Gesetzesnovelle zu dieser Tatbestandsvoraussetzung kann daher zurückgegriffen werden. Die Voraussetzung geht von einer alterstypischen seelischen Gesundheit von Kindern aus. Bei der Beurteilung der Verfestigung einer Störung ist grundsätzlich die Entwicklungsoffenheit von Kindern und Jugendlichen und deren Unabgeschlossenheit der Persönlichkeitsentwicklung zu berücksichtigen. Die seelisch gesundheitliche Abweichung tendiert also immer dazu auszuufern; die Tatbestandsvoraussetzung ist daher restriktiv anzuwenden. Die seelische Gesundheit des Kindes oder Jugendlichen muss zum Zeitpunkt der Feststellung nicht bereits seit 6 Monaten vom alterstypischen Zustand abweichen. Vielmehr ist ausreichend, dass nach fachlicher Erkenntnis eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese Abweichung länger als 6 Monate andauern wird.
Rz. 10
Die seelischen Störungen (vgl. hierzu auch Münder, § 35a SGB VIII Rz. 20; Wiesner, § 35a SGB VIII, Rz. 9 und im Einzelnen Rz. 45 ff.), die eine seelische Behi...