Rz. 24
§ 35a Abs. 1a ergänzt in der Zielsetzung § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 und ordnet ein geordnetes medizinisches Verfahren mit entsprechenden Vorgaben zur Feststellung der seelischen Störung – also der Abweichung der seelischen Gesundheit – nach Nr. 1 an. Dabei handelt es sich um ein eigenständiges Verfahren (OVG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 11.11.2022, 3 MB 15/22, Rz. 20). Um einer inflationären Inanspruchnahme des Trägers der Jugendhilfe Schranken zu setzen, beschreibt die Vorschrift die Funktion und den Auftrag der fachärztlichen Stellungnahme im Rahmen des Entscheidungsprozesses (vgl. Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 6.9.2004, BT-Drs. 15/3676 S. 27; zur Zielsetzung vgl. auch anschaulich VG Frankfurt/Oder, Urteil v. 25.1.2012, VG 6 K 83/09 Rz. 28). Der in § 2 SGB IX vorgegebene Behinderungsbegriff enthält eine Vielzahl wertender Elemente. Um diese verifizieren zu können, bedarf es ärztlicher bzw. psychologischer Fachkompetenz, die in ein von sozialpädagogischen Fachkräften des Jugendamts gesteuertes Hilfeplanverfahren einbezogen werden muss. Vor allem die Definition der "drohenden Behinderung" war zunächst in § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB IX in der bis 31.12.2017 gültigen Fassung so allgemein formuliert, dass – je nach Begründung der Stellungnahme – ein kaum mehr abgrenzbarer Personenkreis von Kindern und Jugendlichen die Leistungsvoraussetzungen erfüllte; dem ist der Gesetzgeber dadurch entgegengetreten, dass er mit dem Abs. 1a Funktion und Auftrag der ärztlichen Stellungnahme im Rahmen des Entscheidungsprozesses konkret beschrieben hat (zu den gesetzgeberischen Erwägungen, vgl. BT-Drs. 15/3676 S. 27). Das Problem der "drohenden Behinderung" ist mit der Neugestaltung in § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB IX i. d. F. v. 23.12.2016, gültig ab 1.1.2018, durch die ausdrücklich Inbezugnahme von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX etwas entschärft worden durch eine klarere Konturierung dieses Begriffes. Die konkrete gesetzliche Beschreibung von Funktion und Auftrag der ärztlichen Stellungnahme in Abs. 1a bleibt aber nach wie vor berechtigt. Die Entscheidungsbefugnis zur Feststellung der Behinderung liegt jedoch allein beim verantwortlichen Jugendamt; das Jugendamt trifft die notwendigen Feststellungen hierfür in Zusammenarbeit mit den beteiligten Fachdisziplinen, insbesondere der Kinder- und Jugendpsychiatrie (zur Entscheidungskompetenz vgl. anschaulich VG Stuttgart, Urteil v. 26.7.2011, 7 K 4112/09, LS 1 und Rz. 47). Eine fachärztliche Stellungnahme i. S. v. § 35a Abs. 1a entfaltet keine Bindungswirkung (Sächs. OVG, Beschluss v. 5.3.2019, 3 A 1127/17). Es entscheidet, welche Befunde zu erstellen, welche Berichte und ggf. Gutachten einzuholen sind und es beurteilt auch abschließend, ob die Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen. Das Jugendamt fällt daher die Entscheidung, ob die Teilhabe des jungen Menschen am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist bzw. eine solche Beeinträchtigung droht. Dies liegt in der Kompetenz sozialpädagogischer Fachlichkeit und unterfällt somit dem Aufgabenbereich des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe; die tatsächlichen Feststellungen, ob die seelische Gesundheit i. S. v. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht, ist hingegen regelmäßig Aufgabe von Ärzten oder Psychotherapeuten (vgl. insgesamt OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 15.7.2011, 12 A 1168/11). Nach § 35a Abs. 1a ist dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe das in Abs. 1a beschriebene Verfahren zwingend vorgeschrieben. Eine Stellungnahme hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit ist daher obligatorisch einzuholen.
Rz. 24a
Die Sonderreglung in Abs. 1a bezieht sich im Übrigen ausdrücklich nur auf die erste Anspruchsvoraussetzung der Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 1 Nr. 1 (seelische Störung), nicht aber auf das Vorliegen der weiteren Anspruchsvoraussetzung des § 35a Abs. 1 Nr. 2 (Funktionsbeeinträchtigung) (OVG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 11.11.2022, 3 MB 15/22, Rz. 26; so auch: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 4.4.2022, 12 A 3068/20).
2.4.1 Stellungnahme nach Satz 1
Rz. 25
Hierfür zählt die Vorschrift abschließend den Personenkreis auf, der für die Abgabe einer solchen Stellungnahme in Betracht zu ziehen ist:
- ein Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (Nr. 1) oder
- ein Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, ein Psychotherapeut mit einer Weiterbildung für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen (Nr. 2) oder
- ein Arzt oder psychologischer Psychotherapeut, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt (Nr. 3).
Rz. 25a
Andere Personen sind daher nicht zur Abgabe der Stellungnahme berufen; so reicht eine Stellungnahme z. B. einer Pflegefachkraft, die ein Gutachten für den Medizinischen Dienst erstellt hat, oder eines Arztes für Kinder- und Jugendmedizin nicht aus (OVG Land Schleswig-Holstein, Beschluss v. 11.11. 2022, 3 MB 15/22, Rz. 25).
Rz. 25b
Die Beurteilung der Abweichung ist dem in Satz 1 abschließend aufg...