Rz. 33
Durch das Gesetzes Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) v. 3.6.2021 (BGBl. I S. 1444) wurde mit Wirkung zum 10.6.2021 ein neuer Satz 4 eingefügt, der es den Jugendhilfeträgern zur Pflicht macht, die Ausführungen zur Teilhabebeeinträchtigung nach Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in der ärztlichen bzw. psychotherapeutischen Stellungnahme nach Abs. 1a Satz 1 bei der Entscheidungsfindung i. d. R. angemessen zu berücksichtigen.
Rz. 34
Die Funktion der Regelung liegt in der Konkretisierung des Amtsermittlungs- und Untersuchungsgrundsatz, wie er ohnehin aus § 20 SGB X fließt (vgl. Gesetzesmotive: BR-Drs. 5/21 S. 80 = BT-Drs. 19/26107 S. 83); i.V. mit den Regelungen zu den Instrumenten zur Bedarfsermittlung nach § 13 SGB IX ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe daher ohnehin verpflichtet, alle wesentlichen entscheidungserheblichen Tatsachen zu ermitteln und Tatbestandsvoraussetzungen konkret festzustellen hat. Die Klarstellung durch den neu eingefügten Satz 4 erfolgte vor dem Hintergrund, dass Ausführungen zur Abweichung der seelischen Gesundheit, auf die sich diese Stellungnahme im Wesentlichen bezieht, häufig unmittelbar im Zusammenhang mit den von der Teilhabebeeinträchtigung betroffenen Lebensbereichen stehen und daher für die den Fachkräften im Jugendamt federführend obliegende Einschätzung der Teilhabebeeinträchtigung von erheblicher Relevanz sein können.
Rz. 35
Auf der Grundlage der ermittelten bzw. vorliegenden Informationen müssen nachvollziehbare und gerichtlich überprüfbare Aussagen zur Teilhabebeeinträchtigung getroffen werden. Auf die Geltung der Gemeinsamen Empfehlung nach § 26 Abs. 2 Nr. 7 SGB IX für die Grundsätze der Instrumente zur Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs nach § 13 SGB IX (Gemeinsame Empfehlung "Reha-Prozess"), an der sich die Träger der öffentlichen Jugendhilfe gemäß § 26 Abs. 5 Satz 2 SGB IX bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben orientieren bzw. der sie beitreten können, ist hinzuweisen.
Rz. 36
Der Umfang der ärztlichen bzw. psychotherapeutischen Stellungnahme nach Abs. 1a Satz 1 erfasst sowohl die Frage, ob aus der diagnostizierten Abweichung der seelischen Gesundheit eine Teilhabebeeinträchtigung resultiert als auch, welche Hilfe und Unterstützung im Einzelfall angesichts der hiervon betroffenen Lebensbereiche geeignet und notwendig ist. Damit korreliert auch der Umfang der die Berücksichtigungspflicht.
Rz. 37
Dabei hebt die Berücksichtigungspflicht keineswegs den Entscheidungsprimat des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe auf. Dieser und seine Steuerungsverantwortung werden mit dieser Regelung nicht relativiert. Die Entscheidung, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des Anspruchs auf Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit (drohenden) seelischen Behinderungen insgesamt erfüllt sind und welche geeignete und notwendige Hilfe im Einzelfall zu leisten ist, obliegt ausschließlich dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Damit wird auch die Intention der klaren Rollenverteilung zwischen Arzt bzw. Psychotherapeuten und Fachkräften im Jugendamt nicht infrage gestellt, mit der im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes im Jahr 2005 Abs. 1a eingefügt worden ist (vgl. insgesamt auch Gesetzesmotive: BR-Drs. 5/21 S. 80 = BT-Drs. 19/26107 S. 84).