Rz. 26
§ 36 Abs. 2 regelt die Hilfeartentscheidung; sie ist sachlogisch eine Folgeentscheidung der Grundentscheidung über die Hilfegewährung. § 36 Abs. 2 Satz 1 sieht dabei die zwingende Beteiligung von Fachkräften vor und stellt ein Zusammenwirkungsgebot auf. Die Mitwirkung der Fachkräfte dient der Verbesserung der Qualität der Hilfe (i.E. Wiesner, § 36 SGB VIII, Rz. 46). Die Vorschrift ist als Soll-Regelung ausgestaltet. Die Voraussetzung für die Beteiligung der Fachkräfte bei der Hilfeartentscheidung soll erfolgen, wenn die Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist. Es handelt sich hierbei zwar um einen unbestimmten Rechtsbegriff, bei dem aber kein Beurteilungsspielraum eröffnet und der damit voll gerichtlich überprüfbar ist. Zu bejahen ist dies, wenn bei Beginn der Hilfe ihr Ende noch nicht abzusehen ist und feststeht, dass sie sich nicht auf einen kurzen Zeitraum beschränkt. Dabei markiert ein Zeitraum von 6 Monaten die untere Grenze; unterhalb dieses Zeitkorridors ist der längere Zeitraum noch nicht anzunehmen. Diese untere Grenze ergibt sich aus der Begriffsdefintion der seelischen Abweichung i. S. d. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, der nur dann von der Erfüllung dieses Merkmals ausgeht, wenn die seelische Abweichung mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate dauert. Dieses Merkmal ist insgesamt jedoch im Einzelfall zu ermitteln und richtet sich u. a. aus an der unterschiedlichen Intensität der Hilfen der unterschiedlichen Qualität des Hilfebedarfs. Der Gesetzgeber hat daher berechtigterweise auf eine starre Zeitgrenze verzichtet (vgl. zur Zeitgrenze auch bei Münder, § 36 SGB VIII, Rz. 39).Dabei verlangt das Merkmal Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte nicht, dass diese Fachkräfte aus verschiedenen Fachrichtungen stammen; Fachkräfte derselben Fachrichtung können daher ebenso zusammenwirken wie eine Verwaltungsfachkraft und ein Sozialarbeiter/Sozialpädagoge oder jede andere Fachkraft i. S. d. § 72 Abs. 1 (vgl. Wiesner, § 36 SGB VIII, Rz. 46).
Rz. 27
Die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart ist das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses und damit einer gemeinsamen (internen) Entscheidung der Fachkräfte, die nicht den Anspruch auf objektive Richtigkeit erhebt, sondern eine angemessene Lösung zur Bewältigung der Belastungssituation enthält (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 22.12.2015, 12 B 1289/15; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 21.6.2016, OVG 6 S 12.16 Rz. 5, mit Anm. von Nellissen, in: jurisPR-SozR 25/2016 Anm. 1; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v, 22.1.2015, 12 B 1483/14 Rz. 2; Bay VGH, Beschluss v. 1.8.2008, 12 C 08.731; VG Minden, Urteil v. 9.1.2015, 6 K 1539/14 Rz. 30; VG des Saarlandes, Beschluss v. 13.7.2015, 3 L 509/15). Diese Entscheidung ist allerdings kein Kompromiss, dem alle Beteiligten zustimmen müssen, sondern richtet sich allein fachlich nach dem erzieherischen Bedarf (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 11.5.2000, 12 A 12335/99).
Rz. 28
Bei dieser Hilfeartentscheidung und bei der Ausgestaltung der Hilfe nach § 36 Abs. 2 Satz 2 steht dem Jugendhilfeträger ein Beurteilungsspielraum zu, der nur einer eingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliegt (str., i.E. aber h. M. OVG Saarland, Beschluss v. 1.4.2022, 2 B 46/22; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 12.12. 2018, 12 B 649/18 Rz. 4; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 21.6.2016, OVG 6 S 12.16 Rz. 5; OVG Münster, Beschluss v. 22.1.2015, 12 B 1483/14 Rz. 2; Hess. VGH, Urteil v. 4.5.2010, 10 A 1623/09 Rz. 37; BVerwG, Urteil v. 9.12.2014, 5 C 32/13 Rz. 33; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 22.1.2015, 12 B 1483/14 Rz. 2; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 18.6.2014, 12 A 898/14 Rz. 4; Bay VGH, Beschluss v. 17.6.2004, 12 CE 04.578; so auch VG Gelsenkirchen, Beschluss v. 14.7.2000, 19 K 5288/98; VG Minden, Urteil v. 9.1.2015, 6 K 1539/14 Rz. 30; auch Wiesner, § 36 SGB VIII, Rz. 66, der der gerichtlichen Kontrolle enge Grenzen setzten will; a. A. VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 8.11.2001, 2 S 1198/99; a. A. auch LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss v. 16.8.2011, L 5 KR 175/11 B ER, das von einem Auswahlermessen ausgeht; vgl. mit weiteren Nachweisen und zur den Auswirkungen auf die Mitwirkung auch Rz. 15 und die Komm. in § 35a). Die Lehre vom Beurteilungsspielraum beruht in erster Linie auf der Annahme der überlegenen Fachkompetenz des Entscheidungsträgers in bestimmten Teilbereichen, die geprägt ist von einem Mehr an Erfahrung und einer größeren Sachnähe zu den konkreten Verwaltungsproblemen. Mit der Einräumung eines Beurteilungsspielraums trägt der Gesetzgeber damit der Eigenständigkeit der Verwaltung als zweite Staatsgewalt mit eigenem Verantwortungsbereich auch gegenüber der Gerichtsbarkeit Rechnung. Die Entscheidung über die Hilfeart i. S. d. § 36 Abs. 2 Satz 2 stellt im Sinne der normativen Ermächtigungslehre einen solchen eigenen Verantwortungsbereich der Jugendhilfeträger dar, weil das Ergebnis des Entscheidungsprozesses eine persönliche Wertentscheidung eines pl...