Rz. 9
Die Anspruchsvoraussetzungen regelt § 41 Abs. 1 Satz 1. Danach erhalten junge Volljährige geeignete und notwendige Hilfe nach dem Vierten Abschnitt (Hilfe zur Erziehung, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, Hilfe für junge Volljährige), wenn und solange ihre Persönlichkeitsentwicklung eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung nicht gewährleistet. Der Gesetzgeber hat den ursprünglich noch bis 9.6.2021 geltenden Begriff der Notwendigkeit durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) v. 3.6.2021 (BGBl. I S. 1444) mit Wirkung zum 10.6.2021 gestrichen und ersetzt durch den Begriff nicht gewährleistet.
Rz. 10
Die Überprüfung der tatbestandlichen – zumeist mittels unbestimmter Rechtsbegriffe umschriebenen – Voraussetzungen der Volljährigenhilfe unterliegt einer uneingeschränkten gerichtlichen Überprüfung (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 2.7.2014, 12 B 630/14 Rz. 4; a. A. aber offenbar Bay VGH, Beschluss v. 6.2.2017, 12 C 16.2159, der die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfen will).
2.1.1.1.1 Notwendigkeit – alte Rechtslage bis 9.6.2021
Rz. 11
Bis zum 9.6.2021 galt der Begriff der Notwendigkeit.
Rz. 12
Aufgrund der Eigenständigkeit des Anspruchs knüpft die Gewährung der Volljährigkeitshilfe nicht an einen wie auch immer gearteten Erziehungsbedarf an. Notwendig, aber auch ausreichend als Voraussetzung für die Förderung nach § 41 Abs. 1 Satz 1 ist, dass die Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist (Wiesner, § 41 SGB VIII, Rz. 9, der zutreffend die Unschärfe der Tatbestandsvoraussetzungen kritisiert; vgl. unten Rz. 6). § 41 knüpft hierbei ausdrücklich nicht mehr an die Schul- oder Berufsausbildung des Anspruchstellers an (dies forderten die heute nicht mehr gültigen Vorschriften § 6 Abs. 3, § 75 a JWG; vgl. OVG Lüneburg, Urteil v. 25.2.1998, 4 L 5734/96). Aufgrund der Intention des § 41, die Persönlichkeitsentwicklung und die Entwicklung der eigenverantwortlichen Lebensführung zu fördern, kann der Anspruch sogar dann gegeben sein, wenn eine Ausbildung bereits beendet ist. Notwendig ist auch nicht die Gewährung von Hilfe zur Erziehung bereits vor Beginn der Volljährigkeitsgrenze (Stähr, in: Hauck/Noftz, Stand: 01/2018, § 41 SGB VIII, Rz. 8b).
Rz. 13
Mit dem Begriff der Notwendigkeit der Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und Lebensführung ist deren Geeignetheit angesprochen. Die Eingliederungshilfe i. S. v. § 41 Abs. 2 muss das geeignete und erforderliche Mittel sein, den Entwicklungsrückständen des jungen Volljährigeren entgegenzuwirken (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 12.62014, 12 A 659/14 Rz. 3). Dies ist eine Frage des Einzelfalls (zur Frage der Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 13.1.2012, 12 B 1583/11, Rz. 5; VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 16.10.1995, 7 S 1345/93; vgl. auch VG Gelsenkirchen, Beschluss v. 16.10.2003, 19 L 2526/03; VG Minden, Beschluss v. 21.8.2014, 6 K 353/14). Die Geeignetheit einer Hilfe setzt regelmäßig zunächst die Störung der Persönlichkeitsentwicklung und der eigenverantwortlichen Lebensführung voraus (zum Begriff vgl. auch bei v. Koppenfels-Spies, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 41 Rz. 12). Bei der Feststellung einer Störung der Persönlichkeitsentwicklung ist i. S. v. § 9 Nr. 2 auch bei der Hilfe nach § 41 den unterschiedlichen Lebensentwürfen und -bedingungen der jungen Menschen Rechnung zu tragen. Eine Hilfe ist daher nicht angezeigt, wenn der junge Volljährige bewusst einem alternativen Lebensentwurf folgt. Er muss sich nicht für eine etablierte Lebensform entschieden haben. Die Jugendhilfe darf daher nicht von einem stromlinienförmigen Persönlichkeitsprofil ausgehen und bei jeder Abweichung bereits tätig werden (vgl. Münder, § 41 SGB VIII, Rz. 4, 5).
Rz. 14
Bei bestimmten Einzelfallkonstellationen ist die Störung der Persönlichkeitsentwicklung und der eigenverantwortlichen Lebensführung zu bejahen. Die Beeinträchtigung der Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Lebensführung ist regelmäßig bei einer seelischen Behinderung i. S. d. Eingliederungshilfe gemäß § 35a anzunehmen (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss v. 16.10.2003, 19 L 2526/03). Im Übrigen kommt eine solche Störung in Betracht, bei Defiziten in der schulischen oder beruflichen Ausbildung, bei gesundheitlichen Einschränkungen oder auch bei schwierigen sozialen Bindungen (Wiesner, § 41 SGB VIII, Rz. 13, weitere Fallgruppen auch Rz. 17 ff.). Namentlich ist die Störung zu bejahen, wenn bereits Hilfe zur Erziehung oder Eingliederungshilfe gewährt wurde (hierauf weist hin Wiesner, § 41 SGB VIII, Rz. 16). Die Volljährigkeit als solche beeinflusst hingegen nicht die Voraussetzungen der Hilfe. Sie kann nur Anlass für das Jugendamt sein, rechtzeitig zu prüfen, ob Volljährigenhilfe nach § 41 notwendig ist. In diesem...