2.4.1 Europäisches Gemeinschaftsrecht
Rz. 17
Abs. 4 stellt klar, dass die in Abs. 2 und 3 normierten Einschränkungen nicht gelten, soweit Vorschriften des überstaatlichen europäischen Gemeinschaftsrechts oder zwischenstaatliches Recht in Form völkerrechtlicher Verträge Regelungen enthält. Was das europäische Gemeinschaftsrecht anbelangt, so ermöglicht es Art. 24 Abs. 1 GG von Verfassungs wegen Verträgen, die Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen und dem von solchen Einrichtungen gesetzten Recht Geltungs- und Anwendungsvorrang vor dem innerstaatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland durch einen entsprechenden innerstaatlichen Anwendungsbefehl beizulegen. Dies ist für die europäischen Gemeinschaftsverträge und das auf ihrer Grundlage von den Gemeinschaftsorganen gesetzte Recht durch die Zustimmungsgesetze zu den Verträgen gemäß Art. 24 Abs. 1, 59 Abs. 2 Satz 1 GG geschehen. Aus dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag, der sich auf Art. 189 Abs. 2 EWGV erstreckt, ergibt sich die unmittelbare Geltung der Gemeinschaftsverordnungen für die Bundesrepublik Deutschland und ihr Anwendungsvorrang gegenüber innerstaatlichem Recht (BVerfG, Beschluss v. 22.10.1986, 2 BvR 197/83).
2.4.2 Zwischenstaatliches Recht
Rz. 18
Völkerrechtliche Verträge haben Gesetzesrang, soweit sie nach Maßgabe von Art. 59 GG in das innerstaatliche Recht transformiert wurden. Dies würde zunächst einmal Gleichrangigkeit, nicht aber den Vorrang vor innerstaatlichem Recht bedeuten. Abs. 4 stellt übereinstimmend mit § 30 Abs. 2 SGB I insoweit klar, dass das innerstaatliche Recht die vertraglichen Regeln unberührt lässt.
Rz. 19
Im Regelungsbereich des Kinder- und Jugendhilferechts sind insbesondere folgende zwischenstaatliche Regelungen bedeutsam:
- das Haager Übereinkommen zum Schutz Minderjähriger (MSA) v. 5.10.1961 (BGBl. II 1971 S. 217, 1150); wurde durch das "Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und die Maßnahmen zum Schutz von Kindern" (KSÜ) abgelöst (BGBl. 2009 II S. 602). Die Bundesrepublik hat das KSÜ am 17.9.2010 mit Wirkung zum 1.1.2011 ratifiziert (BGBl. 2010 II S. 1527). Danach sind Gerichte und Verwaltungsbehörden des Staates, in dem ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, dafür zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen zu treffen (Art 5 Abs. 1). Nach Art. 11 KSÜ besteht eine Eilzuständigkeit für Schutzmaßnahmen; das Abkommen hat seine Bedeutung nahezu vollständig verloren. Es wurde zum einen durch das Haager Kinderschutzübereinkommen (Art. 51 KSÜ v. 19.10.1996, BGBl. II S. 2010, 1527) abgelöst und außerdem durch die Brüssel IIa-VO gemäß Art. 60 Buchst. a Brüssel IIa-VO und ab 1.8.2022 durch die Brüssel IIb-VO v. 2.7.2019 (VO (EU) 2019/1111) verdrängt. Anwendung findet es nur noch mit Macao-China (Wiesner/Wapler/Elmauer, 6. Aufl. 2022, SGB VIII, § 6 Rz. 36).
- die Deutsch-Schweizerische Fürsorgevereinbarung v. 14.7.1952 (BGBl. II 1954 S. 31) enthält die Verpflichtung der Vertragsparteien zur Gleichbehandlung der Staatsangehörigen des Partnerstaates, die sich auf ihrem Territorium aufhalten, im Bereich der Fürsorge. Unter diesen Begriff fällt auch die Jugendhilfe (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG);
- das Deutsch-Österreichische Fürsorgeabkommen (DÖFA) v. 17.1.1966 (BGBl. II 1969 S. 1) verpflichtet ebenfalls zur Gleichbehandlung der Staatsangehörigen des Partnerstaates, ferner schränkt es die Rückschaffung von Staatsangehörigen des Partnerstaates wegen der Hilfebedürftigkeit stark ein;
- das Europäische Fürsorgeabkommen (EVA) v. 11.12.1953 (BGBl. II 1956 S. 563) gilt nur für Staatsangehörige der Vertragsstaaten (Belgien, Deutschland, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Schweden, Spanien und die Türkei) und verbietet grundsätzlich die Rückschaffung allein wegen der Hilfebedürftigkeit. Sie ist nur möglich, wenn der Betreffende sich noch nicht 5 Jahre in dem Vertragsstaat aufhält und wenn Gründe der Menschlichkeit nicht entgegenstehen;
- das UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes v. 20.11.1989 (BGBl. 1992 II S. 191 und S. 990).