Rz. 16
Die Neuregelung soll im Zusammenhang mit den Änderungen in § 27 und § 36 eine stärkere Angebotssteuerung ermöglichen. Bislang wurden für die Durchführung intensivpädagogischer Projekte im Ausland Träger herangezogen, die sich jeder Kontrolle im Inland entziehen, da sie ihren Sitz im Ausland haben. Die qualitätssichernden Regelungen des SGB VIII sind mangels rechtlichen Zugriffs im Ausland nicht durchzusetzen. Dadurch konnte der Schutz der betroffenen Kinder und Jugendlichen im Ausland nicht sichergestellt werden. Zum Teil kam es zu erheblichen Straftaten, die die diplomatischen Beziehungen der Bundesrepublik zu den betroffenen Staaten belastet haben. Das Auswärtige Amt hatte daher Anfang des Jahres 2004 empfohlen, diese Form der Erlebnispädagogik im Ausland vollständig einzustellen (Stellungnahme des Auswärtigen Amtes zur Erlebnispädagogik – unveröffentlicht). Dagegen wurde von pädagogischer Seite vorgebracht, dass die betroffenen Maßnahmen in bestimmten Fällen das letzte Mittel seien, um einen Zugang zu hoch problembelasteten Jugendlichen zu gewinnen. Durch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter wurden als Kompromissvorschlag im April 2004 Empfehlungen erarbeitet, die die nunmehr Gesetz gewordenen Bestimmungen im Wesentlichen vorweggenommen haben. Danach dürfen intensivpädagogische Projekte im Ausland, die i. d. R. Teil einer auf längere Zeit angelegten Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. im Inland sind, nunmehr nur noch von anerkannten Trägern der Jugendhilfe (§ 75) oder Trägern einer Einrichtung, die der Aufsicht der zuständigen Landesbehörden (Landesjugendämter) nach §§ 45 ff. unterliegen, durchgeführt werden. Darüber hinaus müssen für diese Projekte Fachkräfte i. S. d. § 72 eingesetzt werden. Schließlich verlangt das Gesetz die Bereitschaft zur Kooperation mit den deutschen Vertretungen vor Ort.
Rz. 17
Dennoch bleibt zweifelhaft, ob die Durchführung solcher Maßnahmen damit eine hinreichende Rechtsgrundlage gefunden hat. Denn zum einen kann auch ein Sitz des Trägers im Inland nicht garantieren, dass Maßnahmen der deutschen Jugendbehörden unmittelbar greifen. Es kann allenfalls ein mittelbarer (wirtschaftlicher) Druck auf den Träger ausgeübt werden. Eine direkte Kontrolle oder gar Vollstreckung sofort zu vollziehender Anordnungen im Ausland scheidet nach wie vor aus. Das ist besonders bedenklich vor dem Hintergrund der gegenwärtig in der populistischen Diskussion erhobenen Forderungen von sog. "Boot-Camps", die nach den Vorstellungen ihrer Befürworter bewusst bis an (oder sogar über) die Grenzen der Menschenwürde in der Behandlung von Kriminalitätsrisiken betroffener Jugendlicher gehen sollen. Darüber hinaus behebt auch die Neufassung des § 78b Abs. 2 Satz 2 nicht das völkerrechtliche Problem, dass die Durchführung von Maßnahmen der deutschen Jugendhilfe eine Verletzung der Souveränität und Gebietshoheit der betroffenen Staaten darstellt, falls diese der konkreten Maßnahme nicht vorher ausdrücklich zugestimmt haben. Dabei kommt es im Übrigen nicht nur darauf an, ob die Durchführung jugendhilferechtlicher Maßnahmen nach deutschem Recht als Hoheitsakte anzusehen ist, sondern auch darauf, wie sie nach dem Recht des örtlichen Staates zu qualifizieren ist. Die Kompetenz zu einer solchen rechtlichen Prüfung hat allein das Auswärtige Amt mithilfe der deutschen Vertretungen vor Ort. Daher ist vor der Durchführung intensivpädagogischer Maßnahmen zusätzlich kraft des im Range über dem einfachen Gesetz stehenden allgemeinen Völkerrechts (Art. 24 GG) im Sinne eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals nach § 78b Abs. 2 Satz 2 zu gewährleisten, dass der betroffene Staat über das Auswärtige Amt um Zustimmung ersucht und die Maßnahme nur bei erteiltem Einverständnis begonnen wird.
Rz. 18
Problematisch ist ferner, dass die Neufassung der Vorschrift, die alle Hilfen zur Erziehung einschließt, eine Vollzeitpflege im Ausland auch dann ausschließt, wenn sie von Verwandten geleistet wird, die – wie im Regelfall – nicht mit einem erlaubnispflichtigen inländischen Träger in Beziehung stehen (so auch die Stellungnahme des Deutschen Vereins zur Ausschuss-Drs. 15 [12] 444 unter Nr. 35). Einem solchen Ergebnis ist durch restriktive Auslegung der Norm im Licht von Art. 6 GG zu begegnen mit der Folge, dass in solchen Fällen (bei nachgewiesener Eignung der Verwandtenpflege) auf das Erfordernis eines inländischen Trägerbezugs verzichtet werden kann.