2.1 Gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt (g.A.) der Eltern als Generalnorm (Abs. 1 Satz 1)
Rz. 4
Anders als in § 11 JWG, der die örtliche Zuständigkeit an den g.A. des Minderjährigen anknüpfte, sieht § 86 Abs. 1 Satz 1 als Anknüpfungsmerkmal primär den gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern im Bereich eines örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe vor. Die Vorschrift ist als Generalnorm zur Prüfung der örtlichen Zuständigkeit für die Gewährung von Leistungen an Kinder, Jugendliche und ihre Eltern zu verstehen und geht an dieser Stelle zunächst von dem "Normalbild" einer Familie aus, in dem Eltern mit ihren Kindern in einem gemeinsamen Haushalt zusammenleben. Da sich Jugendhilfeleistungen i. S. d. SGB VIII, das der Gesetzgeber als sog. "Leistungsgesetz" ausgestaltet hat, im Gegensatz zum Sozialhilferecht nicht nur auf materielle Leistungen konzentrieren, sondern im Wesentlichen vordergründig als persönliche familiäre Hilfe (ggf. mit damit einhergehenden materiellen Leistungen) gewährt werden, ist es sachgerecht, die örtliche Zuständigkeit primär am Lebensmittelpunkt der Eltern (gemeinsam mit ihren Kindern), also am Ort des Geschehens, auszurichten. Das ist deshalb angezeigt, weil Jugendhilfeleistungen mit ihren zahlreichen Facetten und Ausgestaltungsformen in ihrer Mehrzahl nicht von einmaligen oder punktuellen Handlungen geprägt sind. Vielmehr werden sie in Form von (meistens länger andauernden) familien- und hilfeplanorientierten Leistungsprozessen abgewickelt. Dies erfordert schon aus diesem Grunde in erster Linie die Nähe zu den Kindern, ihren Eltern sowie deren engerem sozialen Umfeld.
2.2 Gesetzliche Begriffe
2.2.1 Leistungen nach diesem Buch
Rz. 5
Unter dem Begriff "Leistungen nach diesem Buch" sind ausschließlich die im Leistungskatalog des § 2 Abs. 2 definierten Leistungen der Jugendhilfe zu verstehen. Darunter fallen also nicht die "anderen Aufgaben" des Jugendhilfeträgers i. S. d. § 2 Abs. 3. Je nach Intention solcher Leistungen stehen diesen jeweils unterschiedliche Anspruchsberechtigte gegenüber. Ist für eine Eingliederungshilfemaßnahme nach § 35 a das Kind bzw. der Jugendliche selbst anspruchsberechtigt, so trifft dies beispielsweise für eine Hilfe zur Erziehung, zu deren Inanspruchnahme nur der Personensorgeberechtigte nach § 27 Abs. 1 berechtigt ist, nicht zu. Darüber hinaus geht das SGB VIII von weiteren Anspruchsberechtigten aus, z. B. den Eltern bzw. den Elternteilen, den Erziehungsberechtigten eines Kindes oder Jugendlichen wie auch etwa von Müttern/Vätern im Fall der Gewährung einer Leistung nach §§ 16 bis 20. Zu den jeweiligen Begriffsbestimmungen vgl. auch die Erläuterungen zu § 7. § 86 gilt insbesondere auch für die Betreuung in der Kindertagespflege sowie in Kindertageseinrichtungen, weil es sich hierbei ebenfalls um "Leistungen" i. S. d. § 2 Abs. 2 handelt, ungeachtet ihrer etwaigen landesrechtlich unterschiedlich geregelten Finanzierungsform (vgl. hierzu auch BVerwG, Urteil v. 14.11.2002, 5 C 57/01).
Rz. 6
Für die Beurteilung der örtlichen Zuständigkeit gemäß § 86 kommt es vor dem Hintergrund der systematischen Unterscheidung verschiedener Hilfsangebote nach § 2 Abs. 2 im Hinblick auf einen i. d. R. länger andauernden kontinuierlichen Hilfeprozess nicht entscheidend darauf an, ob im Laufe der Hilfegewährung ggf. mehrere – ihrer Form nach unterschiedliche – Leistungen nach § 2 Abs. 2 zur Deckung eines konkreten jugendhilferechtlichen Bedarfs erforderlich werden. Das bedeutet, die Änderung einer zunächst als Vollzeitpflege nach § 33 ausgestalteten Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 in eine unmittelbar daran anschließende (notwendig werdende) Eingliederungshilfemaßnahme nach § 35a (z. B. in einer Einrichtung) ist kein zuständigkeitsänderndes Merkmal i. S. d. Gewährung einer "neuen" Leistung. Die in § 2 Abs. 2 definierten Leistungen sind ungeachtet ihrer Ausgestaltungsform untereinander austauschbar, unter Umständen sogar auch zum Teil zeitgleich nebeneinander zu gewähren, sollte es sich z. B. um eine ambulante Eingliederungshilfemaßnahme nach § 35a neben einer bestehenden Vollzeitpflege nach § 33 handeln (vgl. hierzu auch BVerwG, Urteil v. 29.1.2004, 5 C 9/03). Im Vordergrund der Gesetzesauslegung steht dabei die Kontinuität einer bedarfsgerechten Hilfegewährung im Rahmen einer in aller Regel auf einen längeren Zeitraum angelegten Hilfegewährung. Der dementsprechend auf eine Gesamtbetrachtung des konkreten Hilfebedarfs abstellende zuständigkeitsrechtliche Leistungsbegriff bedeutet deshalb weder, dass jede neue Maßnahme der Jugendhilfe den Beginn einer neuen Leistung markiert, noch, dass es allein auf die erstmalige Gewährung von Jugendhilfe im Sinne eines Beginns einer "Jugendhilfekarriere" ankommt (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 28.2.2012, 12 A 1263/11; Urteil v. 21.3.2014, 12 A 1211/12).
2.2.2 Örtliche Träger
Rz. 7
Örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe werden nach § 69 Abs. 1 durch Landesrecht bestimmt, wobei jeder örtliche Träger ein Jugendamt und jeder überörtliche Träger ein Landesjugendamt zu errichten hat (§ 69 Abs. 3). Wer Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist, regelt das jeweilige Bundesland selbst. § 69 Abs. 1 wurde ...