Rz. 11
Sowohl § 86 als auch die übrigen Zuständigkeitsregelungen des Siebten Kapitels (Zuständigkeit, Kostenerstattung) knüpfen für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit eines Jugendhilfeträgers im Regelfall an den gewöhnlichen Aufenthalt von Personen an (Eltern, maßgeblicher Elternteil, Kind oder Jugendlicher, Pflegeperson). Nur hilfsweise, nämlich dann, wenn ein g.A. nicht vorhanden oder nicht zu ermitteln sein sollte oder etwa in Fällen von Akutmaßnahmen (z. B. der Inobhutnahme nach § 42), sehen die Zuständigkeitsbestimmungen den tatsächlichen Aufenthalt als Anknüpfungspunkt vor.
Rz. 12
Der Begriff des "gewöhnlichen Aufenthaltes" ist im SGB VIII selbst nicht näher definiert. Insofern gilt gemäß § 37 Satz 1 SGB I die Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I mit der Maßgabe, dass der unbestimmte Rechtsbegriff unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck sowie Regelungszusammenhang der jeweiligen Norm auszulegen ist (vgl. BVerwG, Urteil v. 18.3.1999, 5 C 11/98). Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand den g.A. dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Dabei lässt § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I die bloße Tatsache des Verweilens von gewisser Dauer und Regelmäßigkeit an einem Ort ausreichen. Bei Bestimmungen, die wie § 86 auf die örtlichen Zuständigkeitsbereiche von Leistungsträgern abstellen, reicht es daher aus, den gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet eines solchen sachlich zuständigen Trägers zu lokalisieren (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 20.8.2015, 12 A 661/14). Für den Bereich der Jugendhilfe ist mit dem Ort bzw. Gebiet der jeweilige Einzugsbereich des öffentlichen Jugendhilfeträgers gemeint. Der Wille, an diesem Ort oder in diesem Gebiet den Daseinsmittelpunkt begründen zu wollen, ist nicht erforderlich. Entscheidend für die Begründung eines g.A. ist vielmehr, an einem Ort nicht nur vorübergehend, sondern zukunftsoffen bis auf weiteres zu verweilen. Dazu reicht es aus, wenn die tatsächlichen Umstände, die der Begründung eines g.A. nicht entgegenstehen dürfen, dies objektiv erkennen lassen. Als ein (nur) vorübergehender Aufenthalt ist im Unterschied zum g.A. derjenige jedenfalls dann zu qualifizieren, wenn die Lebensbeziehungen des Betroffenen mit dem bisherigen Aufenthaltsort, an den er zurückkehren möchte, verbunden bleiben (z. B. im Falle einer außerhalb ihres Wohnortes inhaftierten Mutter, die aufgrund ihrer innigen Beziehung zu ihren Kinder und zum Ehemann den ständigen Kontakt zur Familie trotz Inhaftierung – so gut es geht – im Rahmen der Besuchsregelungen aufrechterhält). In diesem Falle behält der Betroffene seinen Lebensmittelpunkt an seinem bisherigen Ort des g.A., unabhängig davon, wo er sich (vorübergehend) tatsächlich aufhält; dies insbesondere auch deshalb, weil ein g.A. ausschließlich an einem Ort begründet werden kann. Pendelt der Betroffene zwischen verschiedenen Orten hin und her, etwa zwischen seinem Wohn- und Arbeitsort, ist festzustellen, mit welchem Ort der Betroffene seine überwiegenden Lebensinteressen verbindet. Im Verhältnis zum Arbeitsort ist dem Wohnort, einhergehend mit den familiären Bindungen, im Regelfall ein höherer Stellenwert beizumessen (vgl. hierzu auch: VG München, Urteil v. 17.1.2007, M 18 K 06.2729; VG des Saarlandes, Urteil v. 12.11.2002, 4 K 262/00). Indizien, die für die Begründung eines g.A. sprechen können, sind u. a. die jeweilige Meldeadresse, der bereits zuvor erwähnte Arbeitsort, der Freundes-, Verwandten- und Bekanntenkreis, aber auch der Bezug von Sozialleistungen an dem ständigen Aufenthaltsort der betreffenden Person. Sie sind allerdings für sich gesehen kein ausschlaggebendes Merkmal dafür, ob jemand an einem Ort oder in einem Gebiet auch tatsächlich den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen unterhält. Sie sind allenfalls als dafür sprechende Kriterien im Rahmen einer Gesamtbetrachtung im Einzelfall zu werten. Für die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts i. S. d. § 86 und des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I kommt es auf eine vorausschauende Betrachtung aus der Sicht zum Zeitpunkt der Aufenthaltsnahme an, die die damaligen tatsächlichen Verhältnisse einschließlich des erkennbaren Willens der Eltern oder des betreffenden Elternteils berücksichtigt (OVG Lüneburg, Beschluss v. 7.12.2018, 10 LA 16/18).
Rz. 13
Auch in einer Einrichtung ist es durchaus möglich, den g.A. begründen zu können, z. B. in einem Frauenhaus, in einer Justizvollzugsanstalt oder ggf. auch in anderen Einrichtungsarten (vgl. hierzu ebenfalls § 86 a Rz. 6; vgl. auch Hamburgisches OVG, Urteil v. 18.7.2001, 4 Bf 301/99 Bay VGH, Beschluss v. 19.4.2000, 12 ZB 98.2862). Ein gewöhnlicher Aufenthalt kann auch in einer Einrichtung begründet werden, wenn z. B. die "Brücken nach draußen" durch Aufgabe der bisherigen Wohnung abgebrochen werden (OVG Lüneburg, Beschluss v. 7.12.2018, 10 LA 16/18). Unzweifelhaft begründet eine inhaftierte Person an dem Ort, in dem die JVA gelegen ist ihren Lebensmitt...