Rz. 17
Der Begriff "Beginn der Leistung" lässt sich – je nach Betrachtungsweise und Anwendung der einzelnen Absätze des § 86 – verschiedentlich auslegen. Grundregel ist der g.A. der Eltern bei Beginn der Leistung (§ 86 Abs. 1 Satz 1). Geht man aber z. B. von § 86 Abs. 2 Satz 2 aus, so ist darin für die Leistungsgewährung von dem Elternteil, bei dem das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung zuletzt den g.A. hatte die Rede. Andersherum spricht Abs. 5 von nach Beginn der Leistung, sofern die Eltern während einer dann laufenden Hilfemaßnahme verschiedene g.A. begründen. Das BVerwG hat hierzu in mehreren Grundsatzurteilen nun eine richtungsweisende Entscheidung getroffen, die die jahrzehntelange (mehrheitliche) Praxis der Jugendhilfeträger völlig auf den Kopf stellte. Nach dieser neuen Rechtsprechung des BVerwG sei "Beginn der Leistung" i. S. v. § 86 das Einsetzen der Hilfegewährung und damit grundsätzlich der Zeitpunkt, ab dem die konkrete Hilfeleistung tatsächlich gegenüber dem Hilfeempfänger erbracht werde (vgl. zuletzt Urteil v. 19.10.2011, 5 C 25/10; ebenso nun OVG Lüneburg, Beschluss v. 15.4.2010, 4 LC 266/08). Der für die Anwendung der Zuständigkeitsregelungen in § 86 Abs. 1 bis 5 maßgebliche Zeitpunkt des "Beginns der Leistung" ist demnach nicht der Zeitpunkt des Beginns des Verwaltungsverfahrens bzw. der Stellung des Antrags auf Gewährung der Jugendhilfe (wie z. B. in den Vorauflagen an dieser Stelle vertreten), sondern der Zeitpunkt des Einsetzens der Hilfegewährung. Ausgangspunkt für die Frage nach dem "Beginn" der Leistung ist der Begriff der Leistung (i. S. v. § 86) selbst. Unter einer Leistung, an deren Beginn § 86 Abs. 2 Satz 2 bis 4 und Abs. 4 Satz 1 und 2 für die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit anknüpfen, seien unabhängig von der Hilfeart und -form im Rahmen einer Gesamtbetrachtung alle zur Deckung eines qualitativ unveränderten, kontinuierliche Hilfe gebietenden jugendhilferechtlichen Bedarfs erforderlichen Maßnahmen und Hilfen zu verstehen, sofern sie ohne Unterbrechung gewährt worden sind (st. Rspr. des BVerwG, vgl. Urteile v. 29.1.2004, 5 C 9/03, und v. 25.3.2010, 5 C 12/09, Rz. 22). Die bislang an dieser Stelle vertretene Auffassung wird daher aufgegeben, wobei darauf verzichtet wird, die damals vertretenen Positionen hier nochmals näher aufzuführen. Als Leistungsbeginn kommt dabei allerdings nicht die Inobhutnahme nach § 42 in Betracht, weil diese eine im Verhältnis zu den in §§ 27 ff. zusammengefassten Hilfen völlig andere Zielrichtung besitzt und der Gesetzgeber dementsprechend die Inobhutnahme in § 2 auch nicht dem Begriff der Leistung zugeordnet hat (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 30.11.2007, 12 A 2485/07; Urteil v. 21.6.2007, 12 A 3371/05, mit Hinweis auf VG Karlsruhe, Urteil v. 26.10.2006, 8 K 2931/05). Abs. 1 Satz 1 ist nicht nur anwendbar, wenn die Eltern bei Beginn der Leistung ihren g.A. im Bezirk desselben Jugendhilfeträgers haben, sondern auch dann, wenn sie nach Beginn der Leistung erstmalig oder erneut einen solchen g.A. begründen (BVerwG, Urteil v. 21.9.2022, 5 C 5/21).
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Dass es ungeachtet der Prüfung der örtlichen Zuständigkeit mit Blick auf die neue Rechtsprechung hinsichtlich der Inanspruchnahme von Jugendhilfeleistungen aber dennoch eines Antrages in Form einer eindeutigen Willensbekundung bedarf, dürfte unstreitig sein. Ansonsten würde sich die Funktion des öffentlichen Jugendhilfeträgers mehr oder minder nur auf eine reine Kostenträgerschaft reduzieren (z. B. im Falle einer selbst beschafften Leistung ohne Einbeziehung des zuständigen Jugendamts). Dies stünde im krassen Gegensatz zum Regelungsinhalt des SGB VIII, insbesondere dessen Intention eines kooperativ mit den Eltern (Personensorgeberechtigten) sowie dem Kind/Jugendlichen gestalteten, fachlich initiierten und bedarfsorientiert begleiteten Hilfeprozesses. Zum Antragserfordernis vgl. auch BVerwG, Urteil v. 28.9.2000, 5 C 29/99; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 29.10.2012, 7 A 10868/12. Wurde die Jugendhilfeleistung vom Leistungsberechtigten zu Recht selbst beschafft, so kann die Zuständigkeitsprüfung in Anlehnung an die höchstrichterliche Rechtsprechung zwangsläufig erst nachträglich, also im Nachhinein erfolgen. Maßgeblich für die Feststellung des zuständigen Jugendhilfeträgers wäre dann der Zeitpunkt, an dem die Leistung selbst beschafft worden ist.