Rz. 50

§ 86 Abs. 6 durchbricht den Grundsatz der Regelungen in Abs. 1 bis 5, die örtliche Zuständigkeit des öffentlichen Jugendhilfeträgers an den g.A. der Eltern, des maßgeblichen Elternteils, des Kindes oder Jugendlichen anzuknüpfen, und sieht als sog. "Sondervorschrift" unter ganz bestimmten Voraussetzungen eine Anknüpfung der Zuständigkeit an den gewöhnlichen Aufenthalt der Pflegeperson vor. Pflegeperson ist nach der Definition in § 44 Abs. 1 Satz 1 die Person, die ein Kind oder einen Jugendlichen über Tag und Nacht in ihren Haushalt aufnehmen will. Damit die Rechtsfolge des Abs. 6 eintreten kann, nämlich die Begründung der örtlichen Zuständigkeit des Jugendamtes, in dessen Bereich die Pflegeperson ihren g.A. hat, bedarf es keiner Pflegeerlaubnis i. S. d. § 44 Abs. 1 Satz 2. Es kommt also nicht darauf an, ob es sich um ein erlaubnispflichtiges oder ein erlaubnisfreies Pflegeverhältnis, wie beispielsweise das der sog. Verwandtenpflege, handelt. Darüber hinaus ist für den Eintritt der Sonderzuständigkeit ebenfalls nicht von Bedeutung, aus welchem Grunde ein Kind oder Jugendlicher bei einer Pflegeperson lebt, ob auf freiwilliger Vereinbarung zwischen den Eltern (oder dem Personensorgeberechtigten, falls den Eltern die Personensorge nicht zusteht) und der Pflegeperson beruhend oder ggf. im Rahmen der Gewährung einer Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 oder etwa im Rahmen einer Eingliederungshilfemaßnahme für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche bei einer geeigneten Pflegeperson i. S. d. § 35a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3. Nicht entscheidend ist vor allem eine eventuelle Hilfegewährung durch einen Sozialleistungsträger. Auch ein leistungsfreier Aufenthalt bei einer Pflegeperson ist für die Anwendung des Abs. 6 unbeachtlich. Lebte das Kind oder der Jugendliche bereits vor Beginn der Jugendhilfeleistung 2 Jahre – leistungsfrei – bei ein und derselben Pflegeperson, tritt die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers unmittelbar mit Beginn der Jugendhilfeleistung ein, ohne dass es zu einem Wechsel der Zuständigkeit für diese Jugendhilfeleistung kommen kann, weil bisher keine Leistung gewährt worden ist (vgl. VG Aachen, Beschluss v. 17.2.2004, 2 L 2405/03, mit Verweis auf Kunkel, in: LPK-SGB VIII, 4. Aufl. 2011, § 86 Rz. 52).

 

Rz. 51

Die Rechtswirkung der Sondervorschrift des § 86 Abs. 6 tritt kraft Gesetzes ein, soweit die darin aufgeführten Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind.

2.8.1 Zweijähriger Aufenthalt bei einer Pflegeperson; auf Dauer angelegtes Pflegeverhältnis (Abs. 6 Satz 1)

 

Rz. 52

§ 86 Abs. 6 Satz 1 normiert für den Eintritt der örtlichen Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers am g.A. der Pflegeperson 2 Voraussetzungen. Zum einen muss ein Kind oder Jugendlicher mindestens 2 Jahre bei ein und derselben Pflegeperson leben. Zum anderen ist es erforderlich, dass dieses Pflegeverhältnis auf Dauer ausgerichtet ist. Auf die Frage, um welche Hilfeart es sich dabei handelt, kommt es hingegen nicht an. Rechtsunerheblich und damit die Sonderzuständigkeit nicht beendend ist deshalb die Fallkonstellation, in der z. B. Elemente der Hilfe nach § 33 (Pflegefamilie) und der Hilfe nach § 34 (institutionelle Professionalisierung der Betreuung durch einen zwischen dem Jugendamt und der Erziehungsstelle angesiedelten freien Träger, Abrechnung nach Pflegesätzen) kombiniert sind (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 7.6.2005, 12 A 2677/02). Dem auf Dauer ausgerichteten Pflegeverhältnis kommt insofern besondere Bedeutung zu, als damit eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende hilfeplanmäßig sowie aktenkundig dokumentierte förderliche Lebensperspektive für das Kind oder den Jugendlichen unter Beteiligung aller in Betracht zu ziehenden Fachkräfte einschließlich des Personensorgeberechtigten sowie des Kindes oder Jugendlichen i. S. d. §§ 36 f. erarbeitet worden ist, sofern die Eltern bzw. der Personensorgeberechtigte die Erziehung des Kindes oder Jugendlichen nicht (mehr) sicherstellen können oder wollen.

 

Rz. 53

Im Falle eines Wechsels der Pflegeperson – beispielsweise aufgrund des Scheiterns des bisherigen Pflegeverhältnisses, aus welchen Gründen auch immer – beginnt die 2-Jahres-Frist von neuem zu laufen, bevor die örtliche Zuständigkeit nach Abs. 6 erneut eintreten kann. Gleiches gilt für den Fall, dass das Kind oder der Jugendliche nach dem Scheitern des bisherigen Pflegeverhältnisses zunächst zur Abklärung der weiteren Lebensperspektive – wenn auch nur kurzfristig – in einer Einrichtung untergebracht werden muss, z. B. in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Reguläre Krankenhausaufenthalte oder dergleichen sind damit allerdings nicht gemeint, da das Pflegeverhältnis hierdurch nicht beendet wird.

 

Rz. 54

Ob und inwieweit es sich tatsächlich um ein auf Dauer angelegtes Pflegeverhältnis handelt, ist im Rahmen einer rückwirkenden sowie vorausschauenden Betrachtung durch die beteiligten Fachkräfte zu prognostizieren. Bei der vom Gesetzgeber verwendeten Formulierung des "auf Dauer" angelegten Pflegeverhältnisses handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der auslegungsbedürftig ist und ...

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