0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Im Unterschied zur Zuständigkeitsregelung in § 11 JWG, die grundsätzlich auf den gewöhnlichen Aufenthalt (g.A.) des Minderjährigen abstellte, sieht § 86 Abs. 1 Satz 1 eine generelle Anknüpfung an den g.A. der Eltern des Minderjährigen vor. Sinn und Zweck dieser Neuregelung ist der möglichst effektive, ortsnahe und enge Kontakt zwischen den Eltern und dem für die Gewährung der Jugendhilfeleistung verantwortlichen örtlichen Träger (Jugendamt).
Rz. 2
§ 86 gilt seit dem 1.1.2014 i. d. F. des Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Verwaltungsvereinfachung in der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz – KJVVG) v. 29.8.2013 (BGBl. I S. 3464) und knüpft damit an die ursprüngliche Zuständigkeitsregelung des § 85 a. F. an. Die Vorschrift wurde zunächst im Rahmen des 1. SGB VIII-ÄndG v. 16.2.1993 (BGBl. I S. 239) mit Wirkung v. 1.4.1993 neu gefasst (BT-Drs. 13/2866 S. 6, 21 und BT-Drs. 13/3711 S. 15, 44). Im Zuge der Kindschaftsreform durch das Kindschaftsreformgesetz v. 16.12.1997 (BGBl. I S. 2942) ist die Zuständigkeitsbestimmung für Mütter nichtehelicher Kinder (§ 86 Abs. 1 Satz 2) gestrichen und durch eine neue Regelung ersetzt worden (2. SGB XI-ÄndG; BT-Drs. 13/10330 S. 11, 20). Darüber hinaus wurde Abs. 7 den verschiedenen Fallgestaltungen im Asylverfahren folgend entsprechend modifiziert. Das BVerwG hatte bis zur Neufassung der Vorschrift zum 1.1.2014 zu der Zuständigkeitsregelung in § 86 Abs. 5 mehrfach entschieden, dass diese auch in den Fällen anwendbar sei, in denen die Eltern bereits vor bzw. bei Leistungsbeginn verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben und solche während des Leistungsbezuges beibehalten. Mit der Ergänzung in Satz 2 durch die Formulierung "in diesen Fällen" sollte der Bezug und damit die zeitliche Abfolge klargestellt werden. Die Anwendung ist auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen nach Beginn der Leistung zum Zeitpunkt der Begründung verschiedener gewöhnlicher Aufenthalte die Personensorge beiden gemeinsam oder keinem Elternteil zugestanden hat. Ziel der Änderung ist es, den mit der Zuständigkeitsregel des Abs. 5 ursprünglich verfolgten Gesetzeszweck, der durch die höchstrichterliche Rechtsprechung völlig aus dem Lot geraten war, wiederherzustellen.
1 Allgemeines
Rz. 3
§ 86 Abs. 1 knüpft die örtliche Zuständigkeit, soweit Leistungen nach diesem Buch an Kinder, Jugendliche und ihre Eltern gewährt werden, an den gemeinsamen g.A. der Eltern im Bereich eines Trägers der öffentlichen Jugendhilfe an. Die Vorschrift beschränkt sich dabei auf die "Leistungsgewährung" i. S. d. § 2 Abs. 2 und schließt die Erfüllung "anderer Aufgaben" nach § 2 Abs. 3, die gesonderten Zuständigkeitsregelungen unterliegen, ausdrücklich nicht mit ein. Die Abs. 2 bis 5 regeln Fallvarianten, die von dem "Normalbild" einer Familie abrücken, beispielsweise wenn Eltern (mit/ohne Personensorgerecht) verschiedene g.A. im Bereich verschiedener Träger begründen, Leistungen für ein Kind einer nichtehelichen Mutter zu gewähren sind, ein bzw. beide Elternteile verstorben sind oder etwa der g.A. der Eltern, des maßgeblichen Elternteils und des Kindes oder Jugendlichen nicht vorhanden bzw. nicht ermittelbar ist. Für den Fall, dass sich ein Kind oder Jugendlicher länger als 2 Jahre bei einer Pflegeperson aufhält und sein Verbleib dort auf Dauer ausgerichtet ist, enthält Abs. 6 – abweichend von den Bestimmungen der Abs. 1 bis 5 – eine Sonderregelung. Darüber hinaus sieht Abs. 7 für Leistungen an Kinder und Jugendliche, die um Asyl nachsuchen oder einen Asylantrag gestellt haben, ebenfalls eine Sonderregelung vor.
2 Rechtspraxis
2.1 Gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt (g.A.) der Eltern als Generalnorm (Abs. 1 Satz 1)
Rz. 4
Anders als in § 11 JWG, der die örtliche Zuständigkeit an den g.A. des Minderjährigen anknüpfte, sieht § 86 Abs. 1 Satz 1 als Anknüpfungsmerkmal primär den gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern im Bereich eines örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe vor. Die Vorschrift ist als Generalnorm zur Prüfung der örtlichen Zuständigkeit für die Gewährung von Leistungen an Kinder, Jugendliche und ihre Eltern zu verstehen und geht an dieser Stelle zunächst von dem "Normalbild" einer Familie aus, in dem Eltern mit ihren Kindern in einem gemeinsamen Haushalt zusammenleben. Da sich Jugendhilfeleistungen i. S. d. SGB VIII, das der Gesetzgeber als sog. "Leistungsgesetz" ausgestaltet hat, im Gegensatz zum Sozialhilferecht nicht nur auf materielle Leistungen konzentrieren, sondern im Wesentlichen vordergründig als persönliche familiäre Hilfe (ggf. mit damit einhergehenden materiellen Leistungen) gewährt werden, ist es sachgerecht, die örtliche Zuständigkeit primär am Lebensmittelpunkt der Eltern (gemeinsam mit ihren Kindern), also am Ort des Geschehens, auszurichten. Das ist deshalb angezeigt, weil Jugendhilfeleistungen mit ihren zahlreichen Facetten und Ausgestaltungsformen in ihrer Mehrzahl nicht von einmaligen oder punktuellen Handlungen geprägt sind. Vielmehr werden sie in Form von (meistens länger andauernden) familien- und hilfeplanorientierten Leistungsprozessen abgewickelt. Dies erfordert sc...