0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
§ 86c gilt seit dem 1.1.2012 i. d. F. des Art. 2 Nr. 23 des Gesetzes zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – BKiSchG) v. 22.12.2011 (BGBl. I S. 2975). Die Vorschrift wurde ursprünglich durch das 1. SGB VIII-ÄndG v. 16.2.1993 (BGBl. I S. 239) mit Wirkung zum 1.4.1993 aufgenommen. Sie resultiert aus den Beratungen im Bundestagsausschuss für Jugend und Frauen (vgl. BT-Drs. 12/3711 S. 17). Um im Falle eines Wechsels der örtlichen Zuständigkeit keine Leistungsunterbrechung herbeizuführen, hat der Gesetzgeber auf diese Weise eine spezielle Regelung für den Bereich der Jugendhilfe geschaffen. Sie ist der allgemeinen Vorschrift des § 2 Abs. 3 Satz 1 SGB X nachgebildet. Durch die Anfügung des Abs. 2 und Modifikation des Abs. 1 wurde die Regelung zur fortgesetzten Leistungspflicht bei Zuständigkeitswechseln mit dem BKiSchG erweitert und konkretisiert. Das SGB VIII enthielt bis dato keinerlei Regelungen zum Verfahren bei einer Fallübergabe. Die jeweiligen Jugendhilfeträger entschieden bislang selbst über die Art und Weise der Fallübergabe in eigener Verantwortung, was in der Praxis oftmals zu unbefriedigenden Leistungsverzögerungen für die Leistungsadressaten, teilweise sogar zu Leistungsabbrüchen geführt hat. Die Hilfekontinuität war in vielen Fällen nicht mehr gewahrt. Dem sollte durch eine Erweiterung des § 86 c entgegen gewirkt werden.
1 Allgemeines
Rz. 2
§ 86c regelt die fortgesetzte Leistungspflicht des bislang örtlich zuständigen Jugendhilfeträgers im Falle des Eintritts eines Zuständigkeitswechsels während der laufenden Hilfegewährung. Die Norm soll sicherstellen, dass ein Zuständigkeitswechsel nicht zur Einstellung oder sogar zum Ausschluss der Jugendhilfeleistung führt. Darüber hinaus regelt die Vorschrift das Verfahren bei einer Fallübergabe. Ziel der fortdauernden Leistungsverpflichtung ist es, auch bei einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit auf einen anderen Jugendhilfeträger die Kontinuität in der Leistungserbringung im Sinne des/der Leistungsberechtigten zu wahren. Für die Fortsetzungsfähigkeit einer Leistung kommt es allerdings entscheidend darauf an, ob die bereits durch den bislang zuständigen Träger gewährte Leistung von dem neu zuständig gewordenen Träger in der Weise übernommen werden kann, als auch der neu zuständig gewordene Träger den bestehenden jugendhilferechtlichen Bedarf – durch welche konkrete Hilfsmaßnahme auch immer – decken kann. Dass eine bisher gewährte Leistung i. S. d. § 86 c fortsetzungsfähig ist, bedeutet nicht gleichzeitig, dass der neu zuständig gewordene Träger die Leistung in gleicher Weise weiterführen muss. Er ist vielmehr aufgrund des Zuständigkeitswechsels lediglich dazu gehalten, zu prüfen und zu entscheiden, welche Maßnahmen zur Regelung des konkreten Hilfefalles nach der für seinen Zuständigkeitsbereich geltenden Sach- und Rechtslage zu treffen sind (vgl. hierzu: Niedersächsisches OVG, Urteil v. 13.2.2006, 12 LC 12/05).
2 Rechtspraxis
2.1 Fortgesetzte Leistungspflicht bei Zuständigkeitswechsel und Wahrung der Kontinuität im Hilfeprozess
Rz. 3
Abs. 1 Satz 1 ist keine Zuständigkeitsregelung, sondern Anspruchsnorm. Sie knüpft an eine bisher bereits bestehende Zuständigkeit eines Jugendhilfeträgers für den Fall eines Zuständigkeitswechsels an und stellt damit die weitere Leistungserbringung gegenüber dem/den Leistungsberechtigten sicher. Eine Verpflichtung zur weiteren Leistung kommt jedoch nur dann in Betracht, wenn der bisher zuständige Träger die nach dem Zuständigkeitswechsel begehrte Leistung auch vorher schon erbracht hatte, denn nur dann können Leistungen "fortgesetzt" werden (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 7.4.2011, 12 B 392/11). Die Vorschrift gilt insbesondere auch für die Betreuung in der Kindertagespflege sowie in Kindertageseinrichtungen, weil es sich hierbei ebenfalls um "Leistungen" i. S. d. § 2 Abs. 2 handelt, ungeachtet ihrer etwaigen landesrechtlich unterschiedlich geregelten Finanzierungsform (vgl. hierzu auch BVerwG, Urteil v. 14.11.2002, 5 C 57/01). Der zum Zeitpunkt des Wechsels der örtlichen Zuständigkeit bis dahin zuständige Träger wird so lange zur Gewährung der bisherigen Leistung weiterverpflichtet, bis der nunmehr zuständige Jugendhilfeträger sie entweder fortsetzt oder eine Weitergewährung aus materiell-rechtlichen Gründen ablehnt (vgl. hierzu auch BVerwG, Urteil v. 14.11.2002, 5 C 51/01). Im Falle einer solchen auf inhaltlichen Gründen basierenden Ablehnung endet die fortgesetzte Leistungspflicht des bis dahin "an sich unzuständigen" Trägers. In der Rechtsprechung des BVerwG ist damit inzwischen geklärt, dass eine die Weiterleistungspflicht des bisher zuständig gewesenen örtlichen Jugendhilfeträgers aus § 86c Abs. 1 Satz 1 beendende "Fortsetzung" der Leistung durch den zuständig gewordenen örtlichen Träger auch in dessen Leistungsablehnung bestehen kann, weil der durch § 86c bezweckte verfahrensrechtliche Schutz der Leistungsberechtigten vor den Folgen eines Zuständigkeitswechsels sich nicht auf den Schutz vor den materiell-rechtlichen Folgen eines Ortswechsels erstreckt. Hieraus ergibt sich aber zugleich auch...