2.1 Fallkonstellationen (Varianten)
2.1.1 Die örtliche Zuständigkeit steht nicht fest (Variante 1)
Rz. 4
Soweit die Klärung der die örtliche Zuständigkeit begründenden Voraussetzungen schwierig ist, wie z. B. die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthaltes (g.A.), und deshalb insgesamt einen längeren Zeitraum erfordert, verpflichtet § 86d Fallvariante 1 den örtlichen Träger zum vorläufigen Tätigwerden, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche, der junge Volljährige bzw. bei Leistungen nach § 19 der Leistungsberechtigte vor Beginn der Leistung tatsächlich (zum Begriff des tatsächlichen Aufenthaltes siehe Erläuterungen zu § 6) aufhält. Die Ermittlungspflicht (z. B. hinsichtlich des g.A.) ist strengen Maßstäben zu unterwerfen. Dies bedeutet, dass die zur Feststellung der örtlichen Zuständigkeit notwendigen Ermittlungen alle verfügbaren und geeigneten Mittel einschließen (müssen), die auf legale Art und Weise zum Einsatz gebracht werden können, um damit schnellstmöglich den örtlich zuständigen Jugendhilfeträger in seine Leistungsverantwortung zu bringen (vgl. hierzu auch Reisch, in: Jans/Happe/Saurbier/Maas, § 86 Rz. 56). Dieses Ziel dürfte jeder vorläufig zur Leistung verpflichtete Träger allerdings schon aus Eigeninteresse verfolgen, insbesondere im Hinblick auf mögliche Bindungen personeller Kapazitäten bei an sich unter Umständen eigener örtlicher Unzuständigkeit.
2.1.2 Der zuständige Träger wird nicht tätig (Variante 2)
Rz. 5
Variante 2 ist im Unterschied zur 1. Variante in den Fällen einschlägig, in denen die örtliche Zuständigkeit zwar feststeht, aber der zuständige Jugendhilfeträger – aus welchen Gründen auch immer – nicht tätig wird. Dabei ist in der Mehrzahl derartiger Fälle eine pflichtwidrige Untätigkeit anzunehmen, die dadurch gekennzeichnet sein kann, dass der örtlich zuständige Träger entweder die Hilfeleistung gänzlich ablehnt, im unzureichenden Maße erbringt oder ihre Erbringung verzögert (vgl. hierzu auch VG Braunschweig, Urteil v. 10.2.2000, 3 A 3393/97). Ob der örtlich zuständige Jugendhilfeträger pflichtwidrig untätig bleibt, ist für die Anwendung des § 86d irrelevant. Ein solches Verhalten hat lediglich einen zusätzlichen "Verwaltungskostenzuschlag" bei der Kostenerstattung (§ 89c Abs. 2) zur Folge. Von einem pflichtwidrigen Verhalten i. S. d. § 89c Abs. 2 ist allerdings nicht schon dann auszugehen, wenn in einem schwierig zu beurteilenden Kompetenzkonflikt ein Jugendhilfeträger seine Zuständigkeit aus rechtlichen Erwägungen heraus verneint, die sich bei genauerer Prüfung als fehlerhaft darstellen (VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 28.4.2015, 12 S 1274/14). So sei ein pflichtwidriges Verhalten etwa zu verneinen, wenn die Bestimmung der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit rechtlich nicht einfach gelagert sei und diese aufgrund einer unübersichtlichen tatsächlichen Situation (letztlich nicht zutreffend) verneint werde. Hingegen könne die Pflichtwidrigkeit bejaht werden, wenn sich die Rechtsauffassung, die zur Verneinung der Zuständigkeit des Trägers führe, als eindeutig unzutreffend oder unvertretbar erweise oder wenn andere Umstände hinzuträten, die das Handeln oder Unterlassen des erstattungspflichtigen Jugendhilfeträgers als rechtlich nicht vertretbar oder gar willkürlich erscheinen ließen.
2.2 Umfang der Verpflichtung des vorläufigen Tätigwerdens
Rz. 6
Soweit die Voraussetzungen des § 86 d vorliegen, also entweder die örtliche Zuständigkeit (noch) nicht feststeht oder der an sich zuständige Träger nicht tätig wird, muss der Träger "am Ort des Geschehens" vorläufig tätig werden. Dies ist der Jugendhilfeträger, in dessen räumlichen Zuständigkeitsbereich das Kind, der junge Volljährige oder bei Leistungen nach § 19 der dafür Leistungsberechtigte vor Beginn der Leistung seinen tatsächlichen Aufenthalt hat. Da der Zeitpunkt des tatsächlichen Aufenthalts vor Beginn der Leistung maßgeblich ist, muss der Zeitpunkt des Beginns der Leistung durch Auslegung bestimmt werden. Nach der Rechtsprechung des BVerwG (zuletzt Urteil v 19.10.2011, 5 C 25/109; ebenso: OVG Lüneburg, Beschluss v 15.4.2010, 4 LC 266/08; vgl. auch Kunkel, in: LPK SGB VIII, § 86 Rz. 9; DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2008 S. 286; Lange, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 86d Rz. 28) ist der Beginn der tatsächlichen Leistungserbringung maßgeblich. Die Gegenmeinung hält den Beginn eines auf Antrag hin beginnenden Verwaltungsverfahrens für maßgeblich (OVG Münster, Beschluss v 27.1.2010, 12 B 1717/09; BayVGH, Beschluss v. 20.5.2009, 12B08/2007; Bohnert, in: Hauck/Noftz, SGB VIII, § 86d Rz. 14). Bei einer länger andauernden Leistungsgewährung, z. B. der sozialpädagogischen Familienhilfe, kann es schwierig sein, den unter Umständen länger zurückliegenden Leistungsbeginn i. S. d. § 86 Abs. 2 Satz 2 zu bestimmen. Da die Verpflichtung zum vorläufigen Tätigwerden nach § 86d gewährleisten soll, dass das Kind oder der Jugendliche nicht unversorgt bleibt, muss in einer derartigen Not- oder Eilsituation, in der sich kein öffentlicher Träger der Jugendhilfe für örtlich zuständig hält, die Frage, welcher Träger zu dem jedenfalls erforderlichen vorläufigen Tätigwerden berufen ist, schnell und eindeutig beantwortet werden können. Daher is...