2.1.1 Begriff der Kindeswohlgefährdung
Rz. 4
Die in Art 6 Abs. 2 Satz 2 GG normierte Pflicht des Staates aufgrund des Wächteramtes stellt eine tief in Grundrechte des Kindes und der Eltern und Sorgeberechtigten eingreifende Befugnis dar. Sie beinhaltet zugleich eine Verpflichtung zum Tätigwerden, bei deren Nichterfüllung Ansprüche der Geschädigten wegen Amtspflichtverletzung und sogar strafrechtliche Konsequenzen erwachsen können. Deshalb muss die Eingriffsschwelle nicht nur im Interesse der zu schützenden Kinder und Jugendlichen, sondern auch im Interesse der Träger der öffentlichen und der freien Jugendhilfe und ihrer Mitarbeiter gesetzlich präzise definiert werden; denn ein unberechtigtes Tätigwerden des Jugendamtes kann ähnlich schwerwiegende Konsequenzen haben wie die fehlerhafte Untätigkeit.
Rz. 5
Die Vorschrift definiert die Eingriffsschwelle nicht völlig neu, sondern legt die staatliche Eingriffsschwelle zugrunde, bei der das Familiengericht tätig werden muss. Sie wird definiert in § 1666 Abs. 1 BGB als eine Gefährdung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes. Als in Betracht kommende Gefährdungshandlungen werden die missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die Vernachlässigung des Kindes, das unverschuldete Versagen der Eltern und das Verhalten eines Dritten genannt. Inhaltlich werden die in Betracht kommenden Gefährdungshandlungen im Gesetzeswortlaut nur ansatzweise definiert. Die missbräuchliche Ausübung des Sorgerechts, die Vernachlässigung des Kindes, das unverschuldete Versagen der Eltern und das Verhalten Dritter werden inhaltlich nicht näher bezeichnet. Erscheinungsformen der Kindeswohlgefährdung sind nach allgemeiner Auffassung die körperliche oder seelische Vernachlässigung, die körperliche oder seelische Misshandlung und sexuelle Gewalt.
2.1.2 Gewichtige Anhaltspunkte
Rz. 5a
Das Jugendamt hat grundsätzlich in eigener Verantwortung die Eignung öffentlicher Hilfen zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung zu beurteilen und sie anzubieten. Andererseits ist dem Familiengericht das staatliche Wächteramt aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG in eigener Verantwortung auferlegt. Es besteht eine Verantwortungsgemeinschaft von Familiengericht und Jugendamt sowie die Pflicht zu einer kooperativen Zusammenarbeit. Gelingt die vorrangige Verantwortungsgemeinschaft von Familiengericht und Jugendamt nicht, besteht zwingend eine Letztverantwortlichkeit und ein Letztentscheidungsrecht des Familiengerichts (OLG Koblenz, Beschluss v. 11.6.2012, 11 UF 266/12).
Rz. 6
Die Gefährdung des Kindeswohls berechtigt bereits das Familiengericht zum Eingreifen, d. h. die Gefahr muss nicht bereits in eine Schädigung umgeschlagen sein. Die Gefahr muss jedoch nach allgemeiner Auffassung in Rechtsprechung und Literatur gegenwärtig sein oder unmittelbar bevorstehen. Die in § 1666 Abs. 1 BGB normierte Eingriffsschwelle für das Tätigwerden des Familiengerichts ist indes nicht identisch mit der in § 8a Abs. 1 Satz 1 definierten Eingriffsschwelle, die für das Jugendamt maßgeblich ist. Das Jugendamt erhält nach § 8a den Auftrag, zunächst einmal Hinweisen über eine drohende Kindeswohlgefährdung nachzugehen, sich weitere Informationen zur Klärung zu verschaffen. Das Jugendamt ist unbedingt verpflichtet, uneindeutige und zweifelhafte Informationen zu erhellen und aufzuklären (OLG Dresden, Entscheidung v. 30.4.2013, 1 U 1306/10; so auch: Hauck/Haines, SGB VIII, § 8a Rz. 3, 9 f. m. w. N.). Sobald gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen dem Jugendamt bekannt werden, hat das Jugendamt eine Risikoabwägung dahingehend vorzunehmen, ob das Kind besser durch Hilfe in der Familie (z. B. Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff.) oder durch die Einschaltung des Familiengerichts im Hinblick auf Maßnahmen nach §§ 1666, 1666a BGB geschützt werden kann, oder ob schließlich andere Institutionen wie Polizei oder Psychiatrie informiert werden müssen, um die Gefährdung abzuwenden (BT-Drs. 15/3676). Die nach Abs. 1 Satz 1 vorgesehene Risikoabschätzung und erst recht die dem vorgelagerte Informationsbeschaffung müssen notwendigerweise schon dann erfolgen, wenn erste Erkenntnisse für das Entstehen einer Kindeswohlgefährdung bekannt werden. Zu diesem Zeitpunkt wird oftmals noch nicht die gegenwärtige Gefahr für die Gefährdung des Kindeswohls, sondern lediglich ein Gefahrenverdacht vorliegen. Wenn Vorsorgeuntersuchungen nicht durchgeführt wurden, gibt dies zwar Anlass zur Gefahrerforschung, rechtfertigt aber für sich allein genommen noch nicht die Feststellung, dass im konkreten Einzelfall eine Gefährdung auch tatsächlich vorliegt (OLG Frankfurt, Beschluss v. 9.9.2013, 1 UF 105/13).
Rz. 7
Anhaltspunkte, d. h. Indizien für das Vorliegen einer Gefährdungssituation und deren Einschätzung können sich aus dem Erscheinungsbild des Kindes oder des Jugendlichen, aus der Wohn- und Familiensituation, dem Erziehungsverhalten der Eltern, der Förderung seiner Entwicklung, traumatisierenden Lebensereignissen und aus dem sozialen Umfeld ergeben. In den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öf...