Rz. 5a

Das Jugendamt hat grundsätzlich in eigener Verantwortung die Eignung öffentlicher Hilfen zur Abwehr einer Kindeswohlgefährdung zu beurteilen und sie anzubieten. Andererseits ist dem Familiengericht das staatliche Wächteramt aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG in eigener Verantwortung auferlegt. Es besteht eine Verantwortungsgemeinschaft von Familiengericht und Jugendamt sowie die Pflicht zu einer kooperativen Zusammenarbeit. Gelingt die vorrangige Verantwortungsgemeinschaft von Familiengericht und Jugendamt nicht, besteht zwingend eine Letztverantwortlichkeit und ein Letztentscheidungsrecht des Familiengerichts (OLG Koblenz, Beschluss v. 11.6.2012, 11 UF 266/12).

 

Rz. 6

Die Gefährdung des Kindeswohls berechtigt bereits das Familiengericht zum Eingreifen, d. h. die Gefahr muss nicht bereits in eine Schädigung umgeschlagen sein. Die Gefahr muss jedoch nach allgemeiner Auffassung in Rechtsprechung und Literatur gegenwärtig sein oder unmittelbar bevorstehen. Die in § 1666 Abs. 1 BGB normierte Eingriffsschwelle für das Tätigwerden des Familiengerichts ist indes nicht identisch mit der in § 8a Abs. 1 Satz 1 definierten Eingriffsschwelle, die für das Jugendamt maßgeblich ist. Das Jugendamt erhält nach § 8a den Auftrag, zunächst einmal Hinweisen über eine drohende Kindeswohlgefährdung nachzugehen, sich weitere Informationen zur Klärung zu verschaffen. Das Jugendamt ist unbedingt verpflichtet, uneindeutige und zweifelhafte Informationen zu erhellen und aufzuklären (OLG Dresden, Entscheidung v. 30.4.2013, 1 U 1306/10; so auch: Hauck/Haines, SGB VIII, § 8a Rz. 3, 9 f. m. w. N.). Sobald gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen dem Jugendamt bekannt werden, hat das Jugendamt eine Risikoabwägung dahingehend vorzunehmen, ob das Kind besser durch Hilfe in der Familie (z. B. Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff.) oder durch die Einschaltung des Familiengerichts im Hinblick auf Maßnahmen nach §§ 1666, 1666a BGB geschützt werden kann, oder ob schließlich andere Institutionen wie Polizei oder Psychiatrie informiert werden müssen, um die Gefährdung abzuwenden (BT-Drs. 15/3676). Die nach Abs. 1 Satz 1 vorgesehene Risikoabschätzung und erst recht die dem vorgelagerte Informationsbeschaffung müssen notwendigerweise schon dann erfolgen, wenn erste Erkenntnisse für das Entstehen einer Kindeswohlgefährdung bekannt werden. Zu diesem Zeitpunkt wird oftmals noch nicht die gegenwärtige Gefahr für die Gefährdung des Kindeswohls, sondern lediglich ein Gefahrenverdacht vorliegen. Wenn Vorsorgeuntersuchungen nicht durchgeführt wurden, gibt dies zwar Anlass zur Gefahrerforschung, rechtfertigt aber für sich allein genommen noch nicht die Feststellung, dass im konkreten Einzelfall eine Gefährdung auch tatsächlich vorliegt (OLG Frankfurt, Beschluss v. 9.9.2013, 1 UF 105/13).

 

Rz. 7

Anhaltspunkte, d. h. Indizien für das Vorliegen einer Gefährdungssituation und deren Einschätzung können sich aus dem Erscheinungsbild des Kindes oder des Jugendlichen, aus der Wohn- und Familiensituation, dem Erziehungsverhalten der Eltern, der Förderung seiner Entwicklung, traumatisierenden Lebensereignissen und aus dem sozialen Umfeld ergeben. In den Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e. V. zur Umsetzung des § 8a SGB VIII v. 27.9.2006 (vgl. dazu: http://www.deutscher-verein.de.) und in den Empfehlungen mehrerer Landesjugendämter werden aufgelistet:

 

Rz. 8

Anhaltspunkte beim Kind oder Jugendlichen selbst

  • nicht plausibel erklärbare sichtbare Verletzungen (aufgrund von Misshandlungen oder Selbstverletzungen),
  • körperliche oder seelische Krankheitssymptome (z. B. Einnässen, Ängste, usw.),
  • Anzeichen für unzureichende Flüssigkeits- oder Nahrungszufuhr,
  • unzureichende ärztliche Vorsorge und Behandlung,
  • Zuführung gesundheitsgefährdender Substanzen,
  • für das Lebensalter unzureichende Aufsicht,
  • Hygienemängel (z. B. bei Körperpflege, Kleidung usw.),
  • zeitweilig unbekannter Aufenthalt (z. B. Weglaufen, Streunen),
  • fortgesetzte unentschuldigte Schulversäumnisse oder fortgesetztes unentschuldigtes Fernbleiben von der Tageseinrichtung,
  • Gesetzesverstöße.
 

Rz. 9

Anhaltspunkte in der Familie und im Lebensumfeld

  • Gewalttätigkeiten in der Familie,
  • sexuelle oder kriminelle Ausbeutung des Kindes oder des Jugendlichen,
  • psychische Erkrankung der Eltern oder Suchtkrankheit, körperliche oder geistige Beeinträchtigung der Eltern,
  • finanzielle Notlage der Familie,
  • desolate Wohnsituation (z. B. Obdachlosigkeit, Vermüllung, zu geringe Wohnfläche),
  • traumatisierende Lebensereignisse (z. B. Tod eines Angehörigen, Unglücksfall),
  • schädigendes Erziehungsverhalten und/oder Entwicklungsförderung durch die Eltern,
  • soziale Isolierung der Familie,
  • desorientierendes soziales Milieu bzw. desorientierende soziale Abhängigkeiten.
 

Rz. 10

Anhaltspunkte zur Mitwirkungsbereitschaft und Mitwirkungsfähigkeit

  • Kindeswohlgefährdung durch Erziehungs- oder Personensorgeberechtigte nicht abwendbar,
  • fehlende Problemeinsicht,
  • unzureichende Kooperationsbereitschaft,

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