Rz. 21
Bei dringender Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen ist das Jugendamt nach Abs. 2 Satz 2 ohne vorherige gerichtliche Entscheidung zur Inobhutnahme berechtigt und verpflichtet, wenn die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden kann. Voraussetzung ist somit, dass eine Beeinträchtigung des Kindeswohls entweder bereits eingetreten ist oder mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar bevorsteht. Die Gefahrenschwelle nach §§ 1666, 1666a BGB muss überschritten sein. Ferner muss die Beeinträchtigung des Kindeswohls so unmittelbar bevorstehen, dass die Entscheidung des Familiengerichts nicht abgewartet werden kann. Eine solche Gefahrenlage ist bei Vernachlässigung oder Verwahrlosung des Kindes oder des Jugendlichen, bei Kindesmisshandlung oder Kindesmissbrauch gegeben. Die Art und Weise der Inobhutnahme ist in § 42 geregelt.
Rz. 22
Abgesehen von der Eingriffskompetenz des Jugendamtes nach § 42, die auf vorläufige und kurzzeitige Maßnahmen begrenzt ist, dürfen Eingriffe in das elterliche Sorgerecht nur aufgrund familiengerichtlicher Entscheidung erfolgen. Daher soll das Jugendamt nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins (NDV 2010 S. 206) das Familiengericht frühzeitiger als bisher vorgesehen einbeziehen. Bei der Risikoabschätzung sollten die Empfehlungen des Deutschen Städtetages (NDV 2009 S. 263) und das dort empfohlene strukturierte Verfahren berücksichtigt werden. Danach ist zunächst zu klären, ob Eilmaßnahmen wie etwa eine Inobhutnahme geboten sind oder ob zunächst bei einem Hausbesuch das Gespräch mit den Eltern gesucht werden sollte. Zu bedenken ist dabei, dass bei vorzeitiger Einschaltung des Familiengerichts das Vertrauensverhältnis zwischen Jugendamt und Sorgeberechtigten beschädigt werden kann.
Rz. 23
Wird das Familiengericht angerufen, so kann gemäß § 157 Abs. 1 FamFG in einem Erörterungsgespräch mit den Sorgeberechtigten und ggf. auch mit dem Kind oder dem Jugendlichen selbst die Art und Intensität der Kindeswohlgefährdung weiter geklärt und überprüft werden. Zugleich können Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe oder der Gesundheitsfürsorge angeboten werden, die ggf. auch im Rahmen eines Gebots nach § 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB aufgegeben werden können. Ferner kann eine solche Erörterung eine Warnfunktion erfüllen. Nach Ablauf eines angemessenen Zeitraumes, in der Regel nach 3 Monaten, kann das Gericht nach § 166 Abs. 3 FamFG prüfen, ob weitere Maßnahmen erforderlich sind. Bei fortbestehender Gefährdung kann das Familiengericht durch einstweilige Anordnung nach § 157 Abs. 3 FamFG das Sorgerecht nach Maßgabe von § 1666 Abs. 3 BGB einschränken (etwa das Aufenthaltsbestimmungsrecht entziehen, Kontaktaufnahmen verbieten oder Erklärungen des Sorgeberechtigten ersetzen) oder ganz entziehen.
Rz. 24
Auch bei der Anrufung des Familiengerichts sind die datenschutzrechtlichen Bestimmungen der §§ 61c bis 65 sowie die Schweigepflicht nach § 203 Abs. 1 Nr. 4 StGB zu beachten. Die Befugnis zur Anrufung des Familiengerichts umfasst nicht ohne weiteres die Befugnis zur Datenweitergabe (vgl. BT-Drs. 11/5948 S. 88). Der Straftatbestand des § 203 Abs. 1 Nr. 4 StGB betrifft freilich nur diejenigen Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberater sowie Berater für Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt ist. Berater, die ihre Tätigkeit nicht bei einer solchen Stelle ausüben, betrifft der Straftatbestand nicht. Strafbedroht ist die Offenbarung eines Geheimnisses, namentlich eines zum persönlichen Lebensbereich gehörenden Geheimnisses. Dazu gehören Tatsachen, die nur einem beschränkten Personenkreis bekannt sind, und an deren Geheimhaltung der Betroffene ein von seinem Standpunkt her sachlich begründetes Interesse hat.
Rz. 25
Zum persönlichen Lebensbereich gehört das Geheimnis, wenn es die Intim- und Privatsphäre des Geheimnisträgers betrifft (Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl., § 203 Rz. 5 und 10). Das Geheimnis kann dem Geheimnisträger in seiner Funktion anvertraut oder sonst bekannt geworden sein. Die Schweigepflicht besteht immer dann, wenn er das Geheimnis in beruflicher Eigenschaft erfahren hat. Das Geheimnis wird unbefugt offenbart, wenn weder die Zustimmung des Verfügungsberechtigten vorliegt, noch eine Befugnis zur Offenbarung gesetzlich geregelt ist. Eine spezialgesetzliche Regelung enthalten § 64 Abs. 2 und § 65 Nr. 2. Im Übrigen kommt eine Offenbarungsbefugnis nur gemäß § 34 StGB nach den engen Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstandes in Betracht. Die Offenbarung ist danach gerechtfertigt, wenn eine Gefahr für Leib und Leben des Schutzbefohlenen besteht. Dies ist dann der Fall, wenn konkrete Anhaltspunkte für Kindesmisshandlung oder Kindesmissbrauch bestehen.