2.1.1 Anspruchsinhalt
2.1.1.1 Anspruch dem Grunde nach (Abs. 1 Satz 1)
Rz. 11
Nach Abs. 1 Satz 1 besteht auf Sozialhilfe ein einklagbarer Rechtsanspruch, soweit das SGB XII bestimmt, dass die Leistung zu erbringen ist.
Rz. 12
Damit geht die Vorschrift von der Systematik des SGB XII aus, die 3 Kategorien von Anspruchsgrundlagen unterscheidet: die sogenannten Muss-Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, die sog. Soll-Leistungen, die den Sozialhilfeträger zwar nicht in jedem Fall, aber regelmäßig zur Leistung verpflichten, und schließlich die sogenannten Kann-Leistungen, über deren Gewährung der Sozialhilfeträger nach seinem Ermessen entscheidet.
Rz. 13
Für alle 3 Gruppen von Leistungen kennt das SGB XII zahlreiche Beispiele. So sind Muss-Leistungen z. B. in § 27 Abs. 1, § 29 Abs. 1, § 30, § 32 Abs. 1, §§ 35, 41 bis 43, §§ 47 bis 51, § 53 Abs. 1 Satz 1, §§ 61, 64, 67, 72, 74, Soll-Leistungen in § 34a Abs. 2 Satz 2, § 37 Abs. 1, §§ 70, 71 und Kann-Leistungen in § 27 Abs. 3, § 32 Abs. 2, § 33, § 36 Abs. 1 Satz 1, § 38, § 54 Abs. 2, §§ 57, 73 geregelt. Wegen der Einzelheiten ist auf die jeweiligen Kommentierungen zu verweisen.
Rz. 14
Die Unterscheidung zwischen Muss-, Soll- und Kann-Leistungen betrifft in aller Regel nur das "Ob" der Leistung. Davon zu trennen ist die Frage, in welcher Form der Sozialhilfeträger den Leistungsanspruch befriedigt. Dies ist auch bei Muss-Leistungen zum Teil in Form von Soll- und Kann-Bestimmungen ausgestaltet. So besteht z. B. nach § 35 Abs. 1 Satz 1 ein Anspruch auf Leistungen zur Unterkunft in Form einer Muss-Leistung ("werden ... erbracht"). In § 35 Abs. 1 Satz 3 ist i. S. einer Soll-Bestimmung geregelt, dass die Leistungen für die Unterkunft an den Vermieter oder andere Empfangsberechtigte gezahlt werden "sollen", wenn die zweckentsprechende Verwendung durch die Leistungsberechtigten nicht sichergestellt ist. Schließlich bestimmt § 35 Abs. 2 Satz 5 als Kann-Vorschrift, dass Wohnungsbeschaffungskosten und Mietkautionen bei vorheriger Zustimmung übernommen werden "können" (vgl. dazu Rz. 26).
Rz. 15
Bei Gewährung von Muss-Leistungen besteht ein unmittelbarer Rechtsanspruch auf die Leistung selbst. Die Entscheidungsbefugnis des Sozialhilfeträgers beschränkt sich in diesem Fall auf reine Rechtsanwendung. Dem steht nicht entgegen, dass nach § 9 Abs. 2 den Wünschen des Leistungsberechtigten, die sich auf die Gestaltung der Leistung richten, lediglich entsprochen werden "soll", soweit sie angemessen sind. Hier geht es wiederum nur um die Frage des "Wie" der Bedarfsdeckung. Der Anspruch selbst wird hierdurch hingegen nicht eingeschränkt (BVerwG, Urteil v. 22.10.1992, 5 C 11.89).
Rz. 16
Soll-Leistungen begründen regelmäßig einen Leistungsanspruch. Die Leistung kann nur in atypischen Ausnahmefällen, die der Leistungsträger zu begründen hat, versagt werden (BVerwG, Urteil v. 14.1.1982, 5 C 70.80; Urteil v. 4.3.1993, 5 C 27/91; Urteil v. 17.6.1993, 5 C 43/90). Dieses Verständnis entspricht auch der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil v. 6.11.1985, 10 RAr 3/84, BSGE 59 S. 115) und der bisherigen sozialrechtlichen Literatur (Seewald, in: KassKomm., Stand 2014, § 39 SGB I Rz. 7 m. w. N.). Die Atypik muss sich dabei jeweils aus den Besonderheiten des Einzelfalles ergeben. Dagegen können außerhalb des Einzelfalles liegende Umstände, wie die finanzielle Leistungsfähigkeit des Sozialhilfeträgers oder die allgemeine Knappheit der öffentlichen Kassen, dem Anspruch auf eine Soll-Leistung nicht entgegengehalten werden. Obwohl der Entscheidungsspielraum des Leistungsträgers damit weitgehend verengt ist, besteht anders als bei Muss-Leistungen kein Anspruch auf die Sache selbst, sondern lediglich ein solcher auf ermessensfehlerfreie Entscheidung (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I). Soll-Leistungen sind z. B. vorgesehen in §§ 34a Abs. 2 Satz 2, 37, 70 und 71.
Rz. 17
Über die Gewährung von Kann-Leistungen entscheiden die Sozialhilfeträger nach Ermessen. Dieses Ermessen ist jedoch auch bei der Entscheidung über das "Ob" der Leistung nicht frei, sondern – ebenso wie nach Abs. 2 Satz 1 hinsichtlich des "Wie" – "pflichtmäßig" auszuüben. Das folgt aus § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I, wonach die Sozialleistungsträger das ihnen zustehende Ermessen "entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten" haben. Dementsprechend besteht ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I). Kann-Leistungen sind u. a. vorgesehen in § 32 Abs. 2, §§ 33 und 36.
Rz. 18
Der Zweck der Ermächtigung ist vom Sozialhilfeträger durch Auslegung der jeweiligen Vorschrift zu ermitteln. Zu beachten sind dabei stets die in § 1 sowie in § 9 SGB I normierten Aufgaben der Sozialhilfe. Die Grenzen des Ermessens ergeben sich aus der jeweiligen Ermächtigungsnorm selbst. So darf der Sozialhilfeträger keine Rechtsfolge setzen, die nicht im Gesetz vorgesehen ist. Verstößt er hiergegen, liegt ein Fall der Ermessensüberschreitung vor. Umgekehrt handelt es sich um eine Ermessensunterschreitung, wenn kein Ermessen ausgeübt wird, obwohl die Ermächtigungsnorm die...