Rz. 56
Abs. 3 Satz 1 legt den Grundsatz fest, dass – unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles – auch unangemessen hohe Aufwendungen für Unterkunft (und Heizung; dazu weiter unten) als Bedarf anzuerkennen sind.
Satz 2 schränkt diesen Grundsatz allerdings ein. Danach gilt Satz 1 für die Aufwendungen für Heizung und nach Ablauf der Karenzzeit für Unterkunft (nur) so lange, bis es diesen Personen möglich oder zuzumuten ist, die Aufwendungen durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise zu senken, i. d. R. jedoch für längstens 6 Monate.
Rz. 57
Bei dem Begriff der Angemessenheit i. S. v. § 35 Abs. 1 und 3 handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der in vollem Umfang der gerichtlichen Prüfung unterliegt (vgl. BSG, Urteil v. 16.9.2012, B 4 AS 109/11 R Rz. 14 m. w. N.; BSG, Urteil v. 4.6.2014, B 14 AS 53/13 R). Das BSG hat den Begriff der Angemessenheit in § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II für das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende konkretisiert. Der für Angelegenheiten nach dem SGB XII allein zuständige 8. Senat des BSG hat sich dieser Rechtsprechung im Rahmen des § 35 Abs. 1 und 3 angeschlossen (BSG, Urteil v. 2.9.2021, B 8 SO 13/19 R Rz. 16, und Urteil v. 23.3.2010, B 8 SO 24/08 R Rz. 14). Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Verwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der "Angemessenheit" in der Parallelvorschrift des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II sieht das BSG nicht, zumal zur Konkretisierung auch die Regelungen der §§ 22a bis 22c SGB II herangezogen werden können (BSG, Urteil v. 3.9.2020, B 14 AS 37/19 R Rz. 16, unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss v. 6.10.2017, 1 BvL 2/15 und 1 BvL 5/15, Rz. 17). Dies gilt für § 35 Abs. 1 Satz 1 gleichermaßen; denn die §§ 22a bis 22c finden über § 35b auch im SGB XII Anwendung.
Rz. 58
Für Unterkünfte i. S. v. 42a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Satz 3 sowie sonstige Unterkünfte i. S. v. § 42a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 gelten allerdings gemäß § 35 Abs. 6 besondere Angemessenheitsgrenzen (vgl. dazu weiter unten).
Rz. 59
Bei der Bestimmung der Angemessenheit i. S. v. § 35 Abs. 1 und 3 sind Grundmiete, Nebenkosten und die Aufwendungen für Unterkunft bei Eigentum getrennt in den Blick zu nehmen.
2.3.2.1 Angemessenheit der Grundmiete
Rz. 60
Das BSG (vgl. Urteil v. 7.11.2006, B 7b AS 18/06 R Rz. 19 – Grundsatzentscheidung – sowie nachfolgend z. B. Urteil v. 17.12.2009, B 4 AS 27/09 R Rz. 15; Urteil v. 13.4.2011, B 14 AS 106/10 R Rz. 15; Urteil v. 20.12.2011, B 4 AS 19/11 R Rz. 14) hat für den Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II, die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte fortführend, ein Prüfungsschema entwickelt. Danach hat die Ermittlung des angemessenen Umfangs der Aufwendungen für die Unterkunft in zwei größeren Schritten zu erfolgen: Zunächst sind die abstrakt angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft, bestehend aus Bruttokaltmiete und kalten Betriebskosten (= Bruttokaltmiete), in einem bestimmten örtlichen Vergleichsraum zu ermitteln. Anschließend ist zu prüfen, ob dem Betroffenen die Anmietung einer Wohnung im Rahmen der abstrakten Angemessenheit auch konkret möglich und subjektiv zumutbar gewesen ist (zu der Frage der subjektiven Zumutbarkeit vgl. weiter unten). Dieses Prüfungsschema gilt wegen der insoweit vergleichbaren Rechtslage auch im Bereich der Sozialhilfe (vgl. BSG, Urteil v. 23.3.2010, B 8 SO 24/08 R Rz. 14; BSG, Urteil v. 2.9.2021, B 8 SO 13/19 R Rz. 17 ff.).
2.3.2.2 Abstrakt angemessene Aufwendungen
Rz. 61
Die Ermittlung der abstrakt angemessenen Aufwendungen hat unter Anwendung der Produkttheorie ("Wohnungsgröße in Quadratmeter multipliziert mit dem Quadratmeterpreis") in einem mehrstufigen Verfahren zu erfolgen:
1. Bestimmung der (abstrakt) angemessenen Wohnungsgröße für die leistungsberechtigte(n) Person(en),
2. Bestimmung des angemessenen Wohnungsstandards,
3. Ermittlung der aufzuwendenden Nettokaltmiete für eine nach Größe und Wohnungsstandard angemessene Wohnung in dem maßgeblichen örtlichen Vergleichsraum nach einem schlüssigen Konzept und
4. Einbeziehung der angemessenen kalten Betriebskosten
(st. Rspr.; vgl. u. a. BSG, Urteil v. 29.8.2019, B 14 AS 43/18 R Rz. 23, und BSG, Urteil v. 30.1.2019, B 14 AS 10/18 R Rz. 22).
2.3.2.2.1 Abstrakt angemessene Wohnfläche
Rz. 62
Bei der Bestimmung der abstrakt angemessenen Wohnungsgröße, die sich nach der Zahl leistungsberechtigter Personen mit in der Wohnung zu deckendem Unterkunftsbedarf richtet (BSG, Urteil v. 21.7.2021, B 14 AS 31/20 Rz. 30), ist die für Wohnberechtigte im sozialen Mietwohnungsbau anerkannte Wohnraumgröße in Quadratmetern zugrunde zu legen (vgl. z. B. BSG, Urteil v. 20.12.2011, B 4 AS 19/11 R Rz. 17 m. w. N., sowie bereits BVerwG, Urteil v. 21.1.1993, 5 C 3/91). Nach Aufhebung des Wohnungsbindungsgesetzes (WoBindG) ist dabei grundsätzlich auf die Wohnungsgrößen abzustellen, die sich aus § 10 des Gesetzes über die soziale Wohnraumförderung (WoFG) v. 13.9.2001 ergeben. Nach dieser Vorschrift können die Länder im geförderten Mietwohnungsbau die Anerkennung von bestimmten Grenzen für Wohnungsgrößen nach Grundsätzen der Angemessenheit regeln. Hierbei erla...