0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift trat als Art. 1 des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch v. 27.12.2003 (BGBl. I S. 3022) am 1.1.2005 (Art. 70 Abs. 1 des genannten Gesetzes) zunächst als § 36 in Kraft.
Rz. 1a
Im Zusammenhang mit der Neustrukturierung des Dritten Kapitels durch Art. 3 Nr. 18 des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches v. 24.3.2011 (BGBl. I S. 453) wurde § 36 in der bis zum 31.12.2010 gültigen Fassung mit Wirkung zum 1.1.2011 zu § 39. Eine inhaltliche Änderung war damit nicht verbunden (BT-Drs. 17/3404 S. 127 zu Nr. 17). Es erfolgten lediglich redaktionelle Anpassungen des Wortlautes.
1 Allgemeines
Rz. 2
Die Vorschrift übertrug im Wesentlichen den früheren § 16 BSHG in das SGB XII. In Erweiterung der alten Regelung gilt die widerlegbare gesetzliche Vermutung, dass in einem Haushalt zusammenwohnende Angehörige (Verwandte, Verschwägerte) – sich in Notlagen gegenseitig helfen, nunmehr für alle Haushaltsgemeinschaften (BT-Drs. 15/1514 S. 61 zu § 37) – vgl. dazu Rz. 9. Außerdem wurde § 16 BSHG mit der Überführung ins SGB XII um die weitere Vermutung ergänzt, dass in einer Wohnung oder in einer entsprechenden anderen Unterkunft zusammen lebende Personen eine Haushaltsgemeinschaft bilden.
Rz. 3
Hintergrund für die Regelung ist das Nachrangprinzip des § 2 Abs. 1. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs., a. a. O.) soll mit der Änderung der Tatsache Rechnung getragen werden, dass sich zunehmend Wohngemeinschaften gebildet haben, in denen nicht verwandte und nicht verschwägerte Personen die Vorteile einer gemeinsamen Haushaltsführung nutzen und sich auch in Notlagen beistehen. Das Bedarfsdeckungsprinzip (§ 9 Abs. 1), das Leistungen für einen – wie auch immer – schon gedeckten Bedarf ausschließt, soll dadurch auch für Gemeinschaften, die ähnlich Familien gemeinsam wirtschaften, handhabbarer und durchsetzungsfähiger gemacht werden. Insbesondere gilt dies für eheähnliche und gleichgeschlechtliche Gemeinschaften, für die der bisherige § 16 BSHG nur eingeschränkt anwendbar war. Für eheähnliche Gemeinschaften bzw. Lebenspartner gilt jedoch bereits § 20 (vgl. hierzu auch Rz. 8).
Rz. 4
Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge hat in einer Stellungnahme (vgl. NDV 2003 S. 490, 495) zu den Gesetzentwürfen des SGB II und XII die Auffassung vertreten, dass die Aufhebung des Individualprinzips (§ 9) zugunsten einer Berücksichtigung gemeinsam wirtschaftender Haushalte genauer geprüft werden sollte. Gleichzeitig wurde darin die jetzt gesetzlich geregelte Erweiterung des Personenkreises kritisiert. Die Unterstellung des gemeinsamen Wirtschaftens entspreche bei nicht miteinander verwandten oder verschwägerten Personen nicht immer der Lebenswirklichkeit (z. B. bei studentischen Wohngemeinschaften oder gemeinsamen Wohnformen für Senioren). Außerdem sei – trotz der widerlegbaren gesetzlichen Vermutung – mit einem doch erheblichen Verwaltungsaufwand zu rechnen (vgl. auch NDV 1995 S. 354 und 430). Teilweise wird die Ausdehnung des Personenkreises, die eine Art öffentlich-rechtliche Unterhaltspflicht installiere und zugleich mit einer Umkehr der Beweislast für die nachfragende Person verbinde, für verfassungsrechtlich bedenklich gehalten (H. Schellhorn, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl. 2010, § 36 Rz. 8; ders. Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch – das neue SGB XII, NDV 2004 S. 167, 171 m. w. N.; zu weiteren verfassungsrechtlichen Bedenken vgl. auch Rz. 6).
Rz. 5
Flankiert wird die Regelung, die ebenso wenig für Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel zur Anwendung gelangt (§ 43 Abs. 1 a. E.) wie für Leistungen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel, von der Auskunftspflicht in § 117. Wegen des beschränkten Anwendungsbereichs auf Personen, die Leistungen nach dem Dritten Kapitel beanspruchen können, ist die praktische Bedeutung eher gering.
Rz. 6
In § 9 Abs. 5 SGB II ist eine Vermutungsregelung mit vergleichbarer Funktion enthalten, die noch dem Wortlaut des § 16 Satz 1 BSHG entspricht. Danach sind also nur Verwandte und Verschwägerte von der Vermutungsregelung erfasst. Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge hat in seiner Stellungnahme (vgl. Rz. 4) darauf hingewiesen, dass er unterschiedliche Vermutungsregelungen nicht für sinnvoll hält. Teilweise wird unter dem Gesichtspunkt von Art. 3 Abs. 1 GG die Erweiterung der Vermutungsregelung in § 39 sogar für verfassungswidrig gehalten (Becker, in: jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 39 Rz. 25 f.; Conradis, in: LPK-SGB XII, 9. Aufl. 2012, § 39 Rz. 2 m. w. N.). Dem könnte durch ein reduzierendes Verständnis des § 39 i. S. v. § 9 Abs. 5 SGB II Rechnung zu tragen sein (Becker, a. a. O.). Dagegen spricht jedoch, dass nach § 7 Abs. 3a SGB II für den Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende inzwischen eine ähnliche Vermutung für eheähnliche bzw. partnerschaftsähnliche Gemeinschaften gilt, die zur Annahme einer Bedarfsgemeinschaft ...