Rz. 6
Wenden andere (als die Träger der freien Wohlfahrtspflege) dem Leistungsberechtigten Mittel zu, weil sie hierzu rechtlich oder sittlich verpflichtet sind, so sind diese Mittel als Einkommen zu berücksichtigen. Eine rechtliche Pflicht kann gesetzlich (z. B. Unterhaltspflicht), vertraglich (z. B. Unterhaltsvereinbarung, Dienstvertrag) oder "gewohnheitsrechtlich" (betriebliche Übung) begründet sein. Ob eine sittliche Pflicht besteht, ist nach allgemeiner Anschauung und den jeweiligen Umständen des Einzelfalles zu entscheiden. Problematisch sind hierbei vor allem Unterhaltsleistungen von Personen, die nicht zum Unterhalt verpflichtet sind. Obwohl sich die hergebrachten Strukturen von Großfamilien immer mehr auflösen, kann die Unterstützung Not leidender Geschwister sittlich geboten sein (vgl. BGH, Urteil v. 9.4.1986, IVa ZR 125/84). Auf der anderen Seite besteht keine allgemein verbreitete sittliche Überzeugung, dass Verwandte oder Verschwägerte (z. B. Geschwister, Cousinen und Cousins, Tanten und Onkel) in Notsituationen zu unterstützen seien (vgl. Geiger, in: LPK-SGB XII, § 84 Rz. 7; Schmidt, in: jurisPK-SGB XII, § 84 Rz. 18). Wem in der Vergangenheit geholfen wurde, kann sittlich dazu verpflichtet sein, den nunmehr selbst in Not geratenen Helfer seinerseits zu unterstützen (vgl. Schmidt, a. a. O.; Steimer, in: Mergler/Zink, SGB XII, § 84 Rz. 10). Zuwendungen, die eine rechtswidrig vom Leistungsträger abgelehnte Leistung eben wegen der Ablehnung bis zur Herstellung des rechtmäßigen Zustandes substituieren sollen stellen schon kein Einkommen i. S. d. § 82 Abs. 1 dar (BSG, Urteil v. 20.12.2011, B 4 AS 46/11 R).
Rz. 7
Zuwendungen ohne rechtliche oder sittliche Pflicht sollen (intendiertes Ermessen) typischerweise anrechnungsfrei bleiben, sofern ihre Berücksichtigung als Einkommen für den Empfänger eine besondere Härte bedeuten würde. Um zu entscheiden, ob der unbestimmte Rechtsbegriff der besonderen Härte vorliegt, sind die Verhältnisse der nachfragenden Person mit den Verhältnissen anderer Leistungsberechtigter zu vergleichen. Maßgebend sind auch hier die besonderen Umstände des Einzelfalles. Dabei darf Abs. 2 nicht zu eng ausgelegt werden. Denn Zuwendungen, die über die staatliche Sozialhilfe hinausgehen, sollen dem Empfänger eine bessere Lebensführung ermöglichen. Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, dass nur besondere Gründe eine Nichtanrechnung rechtfertigen. Werden Leistungen eines Dritten eingestellt, wenn sie auf die Sozialhilfe angerechnet werden, führt dieser Umstand alleine – anders als bei Abs. 1 – nicht zur Freilassung der Zuwendung (vgl. Giere, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 84 Rz. 12;Steimer, in: Mergler/Zink, SGB XII, § 84 Rz. 13).
Rz. 8
Erbringt ein Dritter freiwillige Unterhaltsleistungen an einen Berechtigten und wohnen beide in einer Haushaltsgemeinschaft, so verdrängt die Spezialvorschrift des § 39 den § 84. Denn nach § 39 Satz 1 wird vermutet, dass Personen einer Haushaltsgemeinschaft gemeinsam wirtschaften und ihren Lebensunterhalt untereinander sichern. Folglich tritt § 84 hinter § 39 zurück (zum BSHG: BVerwG, Urteil v. 23.2.1966, V C 93.64).