2.1 Zumutbarkeit des Mitteleinsatzes (Abs. 1 Satz 1)
Rz. 3
Die Norm bestimmt als Komplementärvorschrift zu §§ 85 und 88, dass Einkünfte über der Einkommensgrenze in angemessenen Umfang einzusetzen sind. Sie stellt das zu berücksichtigende Einkommen (§ 82) der maßgeblichen Einkommensgrenze (§ 85) gegenüber.
2.2 Angemessener Umfang des Mitteleinsatzes
Rz. 4
Bei dem Tatbestandsmerkmal "im angemessenen Umfang" handelt es sich um einen gerichtlich uneingeschränkt überprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff; ein Ermessen des Sozialhilfeträgers auf Rechtsfolgenseite besteht nicht (BSG, Urteile v. 25.4.2013, B 8 SO 8/12 R, und v. 4.4.2019, B 8 SO 10/18 R; LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 23.2.2012, L 7 SO 3580/11; Giere, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 87 Rz. 7 f.; Kirchhoff, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 87 Rz. 24 Schoch, in: LPK-SGB XII, § 87 Rz. 3). Denn ob es im Einzelfall angemessen ist, Einkommen einzusetzen, ist keine Frage der Zweckmäßigkeit, sondern eine reine Rechtsfrage. Die Auslegung des Begriffs "angemessener Umfang" erfordert eine wertende Betrachtung, bei der auch Kriterien zu berücksichtigen sind, die sich einer Bezifferung entziehen, etwa der Gesichtspunkt familiengerechter Leistungen gemäß § 16 SGB XII. Im Einzelfall kann es angemessen sein, den die Einkommensgrenze übersteigenden Teil ganz oder gar nicht zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urteil v. 4.4.2019, B 8 SO 10/18 R). So sind beim Einkommenseinsatz für Bestattungskosten u. a. die Nähe der familiären Beziehung des Verpflichteten zum Verstorbenen, ggf. schwere Verfehlungen des Verstorbenen gegenüber dem Verpflichteten sowie der Zweck des § 74 SGB XII zu berücksichtigen (vgl. BSG, a. a. O.; SG Karlsruhe, Urteil v. 28.6.2007, S 1 SO 1604/07; zum BSHG: BVerwG, Urteil v. 29.1.2004, 5 C 2/03).
2.3 Kriterien für den "angemessenen Umfang" (Abs. 1 Satz 2)
Rz. 5
Bei der Prüfung, welcher Umfang angemessen ist, sind insbesondere die Art des Bedarfs, die Art oder Schwere der Behinderung oder der Pflegebedürftigkeit, die Dauer und Höhe der erforderlichen Aufwendungen sowie besondere Belastungen der nachfragenden Person und ihrer unterhaltsberechtigten Angehörigen zu berücksichtigen. Die Aufzählung ist nicht abschließend, wie die Formulierung "insbesondere" zeigt (BSG, Urteil v. 29.9.2009, B 8 SO 23/08 R), sodass im Einzelfall weitere Kriterien ausschlaggebend herangezogen werden können (z. B. das Alter, der Familienstand und die Familienverhältnisse). Auch die Rechtsnatur der Leistung als Muss-, Soll- oder Kann-Leistung beeinflusst den angemessenen Umfang der Selbstbeteiligung (Lippert/Zink, in: Mergler/Zink, SGB XII, § 87 Rz. 29).
2.3.1 Art des Bedarfs
Rz. 6
Hierbei ist u. a. zu berücksichtigen, ob der Bedarf vorhersehbar oder unvorhersehbar (Unglücksfall, Schicksalsschlag) war, ob die nachfragende Person die Bedarfslage selbst mit verursacht hat (z. B. grundlose Eigenkündigung eines Arbeitsverhältnisses) und ob der Mitteleinsatz die sozialpolitischen Leitvorstellungen der Hilfe gefährdet (vgl. Giere, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 87 Rz. 13; Lippert/Zink, in: Mergler/Zink, SGBXII, § 87 Rz. 13; Schoch, in: LPK-SGB XII, § 87 Rz. 8).
2.3.2 Art oder Schwere der Behinderung
Rz. 7
Zu berücksichtigen sein können sowohl die finanziellen als auch die immateriellen Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe des behinderten Menschen am Leben in der Gemeinschaft (Giere, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 87 Rz. 14; Gutzler, in: jurisPK-SGB XII, § 87 Rz. 24; Lippert/Zink, in: Mergler/Zink, SGB XII, § 87 Rz. 14). Führt die Behinderung zu erhöhten Lebenshaltungskosten (z. B. Krankenkost), so ist dieser Mehrbedarf einsatzmindernd zu berücksichtigen.
2.3.3 Art oder Schwere der Pflegebedürftigkeit
Rz. 8
Ist die nachfragende Person pflegebedürftig und wird der Pflegeaufwand nicht oder nicht vollständig durch die gesetzliche Pflegeversicherung gedeckt, so kann dieser pflegebedingte Mehrbedarf die Eigenbeteiligung mindern.
2.3.4 Dauer und Höhe der erforderlichen Aufwendungen
Rz. 9
Dauer und Höhe der erforderlichen Aufwendungen können als Tatbestandselemente sowohl als Begriffspaar, als auch jeweils einzeln von Bedeutung sein (Lippert/Zink, in: Mergler/Zink, SGB XII, § 87 Rz. 15). Bei der Dauer der Aufwendungen kann zwischen einmaligen (z. B. Operation), wiederkehrenden (z. B. Sehhilfen) sowie langfristigen Aufwendungen (z. B. Produkte, die bei einer längerfristigen Pflege benötigt werden) unterschieden werden (Giere, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 87 Rz. 15). Dabei wird ein einmaliger Bedarf den Eigenanteil i. d. R. weniger stark verringern als ein langfristiger Dauerbedarf (Giere, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 87 Rz. 15; Lippert/Zink, in: Mergler/Zink, SGB XII, § 87 Rz. 16; Schoch, in: LPK-SGB XII, § 87 Rz. 10; zum BSHG: BVerwG, Urteil v. 1.7.1970, V C 40/70). Die Höhe der Aufwendungen spielt – wie bei § 88 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 – dann eine Rolle, wenn zur Deckung des Bedarfs nur geringfügige Mittel einzusetzen sind (vgl. Lippert/Zink, in: Mergler/Zink, SGB XII, § 87 Rz. 17). Ein nur geringer Bedarf, dessen Deckung einen angemessenen Einkommensrest belässt, kann auch zu einer längerfristigen Einkommensberücksichtigung führen (vgl. Gutzler, in: jurisPK-SGB XII, § 87 Rz. 25). Erforderlich sind die Aufwendungen, wenn sie die Notlage oder ihre Folgen beheben oder mindern.
2.3.5 Besondere Belastungen
Rz. 10
Daneben sind besond...