0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Norm wurde mit Art. 1 des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch v. 27.12.2003 (BGBl. I S. 3022) eingeführt, trat am 1.1.2005 (Art. 70 Abs. 1, a. a. O.) in Kraft und ist seither unverändert geblieben. Sie überträgt im Wesentlichen inhaltsgleich den vormaligen § 84 BSHG in das SGB XII (BT-Drs. 15/1514 S. 66 zu § 82). Anders als im BSHG ist nunmehr bei der Prüfung, welcher Umfang angemessen ist, neben den bisher bestehenden Kriterien auch die Art oder Schwere der Behinderung oder der Pflegebedürftigkeit bedeutsam. Auf Vorschlag des Vermittlungsausschusses wurde Abs. 1 Satz 3 neu eingefügt (BT-Drs. 15/2260). Er enthält eine Obergrenze der Einkommensberücksichtigung für schwerstpflegebedürftige und blinde Menschen. Hierdurch sollten der Wegfall der speziellen Einkommensgrenze in § 81 BSHG ausgeglichen und Härten vermieden werden (Lippert/Zink, in: Mergler/Zink, SGB XII, § 87 Rz. 1). Im SGB II existiert keine vergleichbare Regelung. Außerhalb des SGB XII wird auf die Bestimmung in § 90 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII (Pauschalierte Kostenbeteiligung) und in § 1836c Nr. 1 BGB verwiesen.
Durch Art. 5 des Gesetzes zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Drittes Pflegestärkungsgesetz – PSG III) v. 22.12.2016 (BGBl. I S. 3159) wurden mit Wirkung zum 1.1.2017 in Abs. 1 Satz 3 die Wörter "Bei schwerstpflegebedürftigen Menschen nach § 64 Abs. 3" durch die Wörter "Bei Pflegebedürftigen der Pflegegrade 4 und 5" ersetzt und damit der Umstellung von Pflegestufen auf Pflegegrade entsprochen (vgl. BR-Drs. 410/16 S. 23, 99).
1 Allgemeines
Rz. 2
Die Vorschrift regelt, welches Einkommen der Leistungsberechtigte oberhalb der Einkommensgrenze aufbringen muss und konkretisiert so den Selbsthilfegedanken. Sein Einkommen ist dabei "in angemessenem Umfang" einzusetzen. Bei der Frage, welcher Umfang angemessen ist, müssen neben der Art des Bedarfs auch die Art oder Schwere der Behinderung oder der Pflegebedürftigkeit, die Dauer und Höhe der erforderlichen Aufwendungen sowie besondere Belastungen der nachfragenden Person und ihrer unterhaltsberechtigten Angehörigen berücksichtigt werden. Eine Grenze der Anrechenbarkeit wurde für Pflegebedürftige der Pflegegrade 4 und 5 (bis zum 31.12.2016: schwerstpflegebedürftige Menschen nach § 64 Abs. 3, vgl. Rz. 1) und blinde Menschen nach § 72 eingeführt: Für sie ist ein Einsatz des Einkommens über der Einkommensgrenze in Höhe von mindestens 60 % nicht zuzumuten. Nach Abs. 2 und 3 darf – in Abkehr vom Monatsprinzip (vgl. Komm. zu § 85 Rz. 8) – ausnahmsweise auf später erzielte Einkünfte zurückgegriffen werden.
2 Rechtspraxis
2.1 Zumutbarkeit des Mitteleinsatzes (Abs. 1 Satz 1)
Rz. 3
Die Norm bestimmt als Komplementärvorschrift zu §§ 85 und 88, dass Einkünfte über der Einkommensgrenze in angemessenen Umfang einzusetzen sind. Sie stellt das zu berücksichtigende Einkommen (§ 82) der maßgeblichen Einkommensgrenze (§ 85) gegenüber.
2.2 Angemessener Umfang des Mitteleinsatzes
Rz. 4
Bei dem Tatbestandsmerkmal "im angemessenen Umfang" handelt es sich um einen gerichtlich uneingeschränkt überprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff; ein Ermessen des Sozialhilfeträgers auf Rechtsfolgenseite besteht nicht (BSG, Urteile v. 25.4.2013, B 8 SO 8/12 R, und v. 4.4.2019, B 8 SO 10/18 R; LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 23.2.2012, L 7 SO 3580/11; Giere, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 87 Rz. 7 f.; Kirchhoff, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 87 Rz. 24 Schoch, in: LPK-SGB XII, § 87 Rz. 3). Denn ob es im Einzelfall angemessen ist, Einkommen einzusetzen, ist keine Frage der Zweckmäßigkeit, sondern eine reine Rechtsfrage. Die Auslegung des Begriffs "angemessener Umfang" erfordert eine wertende Betrachtung, bei der auch Kriterien zu berücksichtigen sind, die sich einer Bezifferung entziehen, etwa der Gesichtspunkt familiengerechter Leistungen gemäß § 16 SGB XII. Im Einzelfall kann es angemessen sein, den die Einkommensgrenze übersteigenden Teil ganz oder gar nicht zu berücksichtigen (vgl. BSG, Urteil v. 4.4.2019, B 8 SO 10/18 R). So sind beim Einkommenseinsatz für Bestattungskosten u. a. die Nähe der familiären Beziehung des Verpflichteten zum Verstorbenen, ggf. schwere Verfehlungen des Verstorbenen gegenüber dem Verpflichteten sowie der Zweck des § 74 SGB XII zu berücksichtigen (vgl. BSG, a. a. O.; SG Karlsruhe, Urteil v. 28.6.2007, S 1 SO 1604/07; zum BSHG: BVerwG, Urteil v. 29.1.2004, 5 C 2/03).
2.3 Kriterien für den "angemessenen Umfang" (Abs. 1 Satz 2)
Rz. 5
Bei der Prüfung, welcher Umfang angemessen ist, sind insbesondere die Art des Bedarfs, die Art oder Schwere der Behinderung oder der Pflegebedürftigkeit, die Dauer und Höhe der erforderlichen Aufwendungen sowie besondere Belastungen der nachfragenden Person und ihrer unterhaltsberechtigten Angehörigen zu berücksichtigen. Die Aufzählung ist nicht abschließend, wie die Formulierung "insbesondere" zeigt (BSG, Urteil v. 29.9.2009, B 8 SO 23/08 R), sodass im Einzelfall weitere Kriterien ausschlaggebend herangezogen werden können (z. B. das Alter, der Familienstand und die Familienverhältnisse). Auch die Rechtsnatur der Leistung als Muss-, Soll- oder Kann-Leistung beeinflusst den angemessenen ...