Rz. 38

Die Aufrechnungsmöglichkeit des Abs. 2 stellt eine Privilegierung und Erweiterung der Aufrechnungsmöglichkeit für die Sozialleistungsträger dar, indem die Aufrechnung gegen laufende Geldleistungen (vgl. dazu Komm. zu § 48) bis zu deren Hälfte und bis zur Grenze der Sozialhilfebedürftigkeit oder Bedürftigkeit nach dem SGB II eröffnet wird, ohne dass es auf die Voraussetzungen des Abs. 1 und damit die Pfändbarkeit nach § 54 ankommt (BSG, Urteil v. 27.3.1996, 14 REg 10/95, BSGE 78 S. 132 = SozR 3-1200 § 51 Nr. 5).

 

Rz. 39

Diese Privilegierung besteht jedoch nur, wenn es sich bei der Forderung des Sozialleistungsträgers um Ansprüche auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Sozialleistungen nach § 47 Abs. 2, § 50 SGB X oder vergleichbarer Vorschriften oder um Beitragsansprüche (§ 22 SGB IV, § 250 Abs. 2 SGB V, § 173 SGB VI) handelt. Der Grund der erweiterten Aufrechenbarkeit liegt darin, dass der Schuldner mit dieser Art von Gegenansprüchen aus finanziellen Interessen der jeweiligen Versichertengemeinschaft nicht seinerseits die volle Leistung verlangen darf, andererseits den Leistungsträger für dessen Ansprüche gegen ihn auf den Pfändungsschutz verweisen können soll. Die Vorschrift setzt das Bestehen von Erstattungs- und Beitragsansprüchen voraus. Bei Beitragsansprüchen ist die Frage des Beitragsschuldners im Hinblick auf die Gegenseitigkeit besonders sorgfältig zu klären. Fehlt die Gegenseitigkeit, kommt nur die Verrechnung (§ 52) im Umfang von Abs. 2 in Betracht.

 

Rz. 40

Mit der Anfügung des letzten Halbsatzes durch das Gesetz v. 18.8.1980 (BGBl. I S. 1469) ab dem 27.8.1980 wurde die Begrenzung der Aufrechnungsbefugnis durch sonst eintretende Hilfe zum Lebensunterhalt eingefügt, um zu vermeiden, dass wegen der Aufrechnung Sozialhilfebedürftigkeit entsteht und der Sozialhilfeträger wirtschaftlich für die Rückzahlung zu Unrecht gewährter Leistungen aufkommen müsste (so die Begründung in BT-Drs. 8/2034 S. 42). Da die Vorschrift bis dahin lediglich auf die Aufrechnung nach Zivilrecht verwies, das eine Begrenzung der Aufrechnungsmöglichkeit gar nicht enthält, und für das Sozialrecht lediglich die Begrenzung auf die Hälfte der Leistung galt, stellte diese zusätzlichen Begrenzung der Aufrechnungsbefugnis eine Gesetzesänderung dar, die es zuvor nicht gab (so BSG, Urteil v. 19.1.1978, 4 RJ 47/77, DAngVers 1978 S. 230 = SozR 1200 § 51 Nr. 3 = BSGE 45 S. 271). Daher kann der Auffassung des BSG (Urteil v. 18.12.1980, 8a RU 12/78, BSGE 51 S. 98) nicht gefolgt werden, dass die Rechtsänderung lediglich eine Klarstellung des schon bis dahin geltenden Rechts darstellte.

 

Rz. 40a

Nach der ab dem 27.8.1980 geltenden Rechtslage musste der Sozialleistungsträger vor der Aufrechnungserklärung von Amts wegen klären, ob im Falle der Aufrechnung mit der Hälfte der laufenden Sozialleistung Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII oder der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II eintreten würde und in welcher Höhe eine Aufrechnung danach noch möglich war. Die Hilfebedürftigkeit richtet sich nach den §§ 27 ff. SGB XII, die Hilfebedürftigkeit nach der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach §§ 7 ff. SGB II; mit jeweils sehr individuellen Maßstäben. Die Befragung nach der evtl. eintretenden Hilfebedürftigkeit konnte zwar individuell erfolgen und mit der Anhörung nach § 24 Abs. 2 Nr. 7 SGB X verbunden werden, der Versicherte musste dazu jedoch keine Angaben machen, so dass eine Aufrechnung nur unter Hinnahme rechtlicher Unsicherheit über evtl. Hilfebedürftigkeit erfolgen konnte. In der Praxis orientierten sich die Sozialversicherungsträger daher für die Prüfung der Hilfebedürftigkeit auch nicht an der individuellen Sozialhilfebedürftigkeit oder den Regelsätzen der Sozialhilfe, sondern an den Pfändungsgrenzen des § 850c ZPO nach den zumeist bekannten persönlichen Daten über den Personenstand und die Angehörigen des Versicherten. Lediglich wenn im Einzelfall bekannt war, dass wegen anderer Einkünfte auch bei höheren Aufrechnungsbeträgen keine Sozialhilfebedürftigkeit eintreten würde, erfolgte eine Aufrechnung bis zur Hälfte der laufenden Leistung.

 

Rz. 40b

Mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt v. 24.12.2003 (BGBl. I S. 2954) wurde Abs. 2 Satz 2 mit Wirkung zum 1.1.2005 dahingehend geändert, dass nunmehr der Sozialleistungsberechtigte seine Sozialhilfebedürftigkeit oder Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II nachweisen muss. Zur Begründung ist dazu (BT-Drs. 15/1516 S. 68) ausgeführt, dass derzeit die Möglichkeit, bis zur Hälfte des Leistungssatzes aufzurechnen, von den Leistungsträgern vielfach nicht genutzt werden kann, weil sie nicht oder nur mit erheblichem Aufwand feststellen könnten, ob der Leistungsbezieher dadurch hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes über die Hilfe zum Lebensunterhalt werde. Dem Leistungsträger obliege nämlich der Nachweis des Nichteintretens von Sozialhilfebedürftigkeit; der Schuldner sei insoweit nicht mitwirkungspflichtig. Künftig solle der Leistungsträger gege...

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