2.1 Entwicklung des Jugendhilferechts
2.1.1 Fürsorgerechtliche Konzeption des JWG
Rz. 3
Bis zum Inkrafttreten des SGB VIII hatten die im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) v. 14.6.1922 und im Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) v. 11.8.1961 normierten Regelungen der Kinder- und Jugendhilfe im Kern ordnungspolitische und eingriffsrechtliche Zielsetzungen. Wie die Bezeichnung "Jugendwohlfahrt" deutlich macht, sahen Gesetzgeber und Öffentlichkeit diese Materie als einen besonderen Teil des Rechts der öffentlichen Fürsorge – also des Sozialhilferechts – und des Polizei- und Ordnungsrechts an. Die Vorschriften zur Aufsicht über die Pflegekinder und die Fürsorgeerziehung hatten ihren Ursprung in § 56 des Reichsstrafgesetzbuches von 1871. Die Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen zu verhindern, dies war das Hauptziel. Leistungsrechtliche Regelungen und Ansprüche auf Jugendhilfeleistungen waren demgegenüber eher systemfremd und spielten allenfalls am Rande eine Rolle. In der Gesetzesfassung v. 11.12.1975 waren Kinder nicht in der Überschrift und ebenso wie Personensorgeberechtigte auch im Wortlaut nicht erwähnt, sollten aber nach der Gesetzesbegründung mit umfasst sein (Niedermeyer, in: BeckOK SozR, 71. Ed. 1.12.2023, SGB I, § 8 Rz. 1, 1.1).
2.1.2 Kinder- und Jugendhilfe im Lichte des Art. 6 GG
Rz. 4
Erst mit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) und der Einordnung des SGB VIII in das Sozialgesetzbuch (SGB) am 1.1.1991 vollzog sich ein grundlegender Wandel in den Zielsetzungen. Zunächst war allerdings seit dem Inkrafttreten der ersten Bücher des SGB über Jahre hinweg heftig umstritten, ob es sich bei der Kinder- und Jugendhilfe überhaupt um eine primär sozialrechtliche oder vielmehr um eine ordnungs- und bildungspolitische Regelungsmaterie handele. Während die Sachverständigenkommission für das Sozialgesetzbuch, die damalige Bundesregierung und die sie tragenden Parteien den sozialrechtlichen Ansatz betonten, sprachen sich die Verbände der Jugendhilfe und die damalige Opposition für die Zuordnung zum erziehungs- und bildungspolitischen Bereich aus. Nach mehreren im Gesetzgebungsverfahren gescheiterten Referentenentwürfen führte der im Herbst 1989 von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf (BT-Drs. 11/5948), wenn auch in stark veränderter Fassung (BT-Drs. 11/6002, 11/6748 und 11/6830), zum Ziel (vgl. auch Rz. 4). Am 28.6.1990 wurde das Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz – KJHG) verkündet (BGBl. I S. 3022) und löste am 1.1.1991 das JWG ab. Dessen Art. 1 normiert das SGB VIII.
Rz. 5
Den Paradigmenwechsel im Grundverständnis der Kinder- und Jugendhilfe formuliert § 1 Abs. 1 SGB VIII. Dort ist statt des eingriffsrechtlichen und ordnungsrechtlichen Ansatzes des JWG das Recht aller jungen Menschen auf Förderung und auf Erziehung normiert. Allerdings weist Art. 6 Abs. 2 GG das Recht und die Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder primär den Eltern zu. Damit korrespondiert das sog. staatliche Wächteramt, d. h. die Pflicht des Staates, über die Wahrnehmung des Elternrechts und der Elternverantwortung zu wachen und bei Gefährdung des Kindeswohls einzuschreiten (§ 1 Abs. 2 SGB VIII). Sind die Eltern gehindert, nicht in der Lage oder nicht willens, ihre Rechts- und Pflichtenstellung einzunehmen, so tritt nicht originär die staatliche Jugendpflege, sondern ein gerichtlich bestellter Vormund oder Pfleger an deren Stelle. Der öffentlichen Jugendhilfe fallen als Aufgaben die Überwachung, die Unterstützung und Beratung der Eltern bei der Erziehung sowie die Förderung der Kinder und Jugendlichen zu. Hinzu kommt der Auftrag, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen (§ 1 Abs. 3 Nr. 2 und 3 SGB VIII).
Rz. 6
Die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (§ 2 Abs. 2 SGB VIII) haben überwiegend Angebotscharakter; die Leistungsempfänger bzw. die Personensorgeberechtigten haben ein Wunsch- und Wahlrecht bei der Ausgestaltung der Hilfen (§ 5 SGB VIII). Kindern und Jugendlichen wird ein ihrem Entwicklungsstand entsprechendes Mitspracherecht garantiert. Leistungsberechtigte für die Leistungen der Jugendhilfe sind junge Menschen und Familien. Die Leistungen der Jugendhilfe werden durch die Träger der freien Jugendhilfe und die Träger der öffentlichen Jugendhilfe erbracht (§ 3 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Es gilt das Prinzip der Trägervielfalt (§ 3 Abs. 1 SGB VIII). Den freien Trägern wird in bestimmten Bereichen der Leistungserbringung sogar der Vorrang vor den öffentlichen Trägern eingeräumt (§ 4 Abs. 2 SGB VIII). Besondere Regelungen zur Anerkennung freier Träger (§ 75) sowie zur Förderung und zur Finanzierung der freien und frei gewerblichen Jugendhilfe gewährleisten das Funktionieren dieses Zusammenwirkens öffentlicher und freier Träger.
Rz. 7
Nach wie vor hat die Kinder- und Jugendhilfe auch ordnungspolitische Aufgaben, die aus dem staatlichen Wächteramt erwachsen. In der Diktion des SGB VIII handelt es sich um die "anderen Aufgaben" (§ 2 Abs. 1 und Abs. 3 SGB VIII). Maßstab und Orientierungspunkt ist dabei das K...