Leitsatz (amtlich)
1. Die Untersuchung eines Leistungsbeziehers der Grundsicherung für Arbeitssuchende auf eine Suchtmittelabhängigkeit ist für die Entscheidung über die Leistung nur dann erforderlich gemäß § 62 SGB I, wenn es aus dem Verhalten des Antragstellers oder sonst zugänglichen Informationen Hinweise hierauf gibt.
2. Erfolgt eine solche Untersuchung (hier: Drogenscreening einer Urinprobe sowie Untersuchung einer Blutprobe auf Blutalkohol) ohne genügende konkrete Hinweise auf eine Suchtmittelabhängigkeit, stellt dies einen rechtswidrigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG dar.
3. Ein Anspruch auf Geldentschädigung kommt jedoch nur in Betracht, wenn der Eingriff derart schwerwiegend ist, dass dieser nur durch eine Geldentschädigung ausgeglichen werden kann.
4. Das ist noch nicht der Fall, wenn sich die nachteiligen Auswirkungen des Eingriffs in engen Grenzen halten, weil
- der Verdacht einer Suchtmittelabhängigkeit nicht an die Öffentlichkeit gelangt ist,
- kein Anlass für die Annahme besteht, dass die Bundesagentur für Arbeit gegenüber Leistungsbeziehern der Grundsicherung für Arbeitssuchende generell in gleicher oder ähnlicher Weise vorgeht und
- Anlass und Beweggründe der handelnden Personen im vorliegenden Fall nicht so schwer wiegen, dass zum Ausgleich eine Geldentschädigung geboten erscheint.
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung abwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des gegen sie vollstreckbaren Betrages, wenn nicht zuvor die Beklagte Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.
Tatbestand
Die Klägerin verlangt von der beklagten Bundesagentur für Arbeit wegen behaupteter Amtspflichtverletzungen die Zahlung eines Schmerzensgeldes.
Die Klägerin war seit mehreren Jahren arbeitslos gemeldet und bezog Leistungen nach dem SGB II. Vom 10.07.2007 bis 31.12.2007 sowie vom 02.01.2008 bis 31.01.2008 war sie arbeitsunfähig krankgeschrieben. Nachdem die Klägerin jedenfalls zu zwei Gesprächsterminen unter Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht erschienen war, richtete die beim Jobcenter H. für die Klägerin zuständige Sachbearbeiterin der Beklagten H. am 23.01.2008 einen Untersuchungsauftrag an den ärztlichen Dienst der Beklagten (AHK S. 11). Dieser enthielt unter Ziff. 3 folgende „ergänzende Bemerkungen”:
„Bitte wenn möglich ein Gutachten auf Aktenlage erstellen. Trotzdem wäre die Abklärung eines event. Suchtmittelmissbrauchs (Tabletten) erforderlich, bitte wenn möglich durch Kontaktaufnahme mit dem behandelnden Arzt abklären. Sollte eine persönliche Untersuchung notwendig sei(n), bitte vor Einladung kurze Rücksprache mit dem Jobcenter. Event. ist auch eine fachärztliche Untersuchung notwendig.”
Im gleichen Schreiben wurden „Zielfragen” formuliert, darunter:
„Liegt ein Genussmittel-/Drogenmissbrauch (Alkohol, Tabletten etc.) vor? Ergeben sich hieraus ggf. schwerwiegende körperliche/geistige/psychische Leistungseinschränkungen?
Bei der Formulierung des Untersuchungsauftrages griff die Sachbearbeiterin H. auf Informationen zurück, die sie einem zuvor von der Klägerin ausgefüllten und für den ärztlichen Dienst bestimmten Gesundheitsfragebogen entnommen hatte. Hier hatte die Klägerin unter anderem folgendes angegeben (AHB S. 31 ff.):
„Starke Abgeschlagenheit, Erschöpfung und Kraftlosigkeit, Schlafstörungen, Gelenkschwellungen und -schmerzen, Gelenksteifigkeit, häufiges Taubheitsgefühl, Herzrasen, Angststörungen, Gelenküberwärmung und -rötung, Übelkeit, Bauchschmerzen. (…)
Ich komme mir vor als säße ich in einem tiefen Loch. Ich fühle mich ständig traurig und leer. Hinzu kommen Schweißausbrüche, Schwindel und verminderte Konzentrationsfähigkeit.”
Mit Schreiben vom 29.01.2008 (AHK S. 1) wurde die Klägerin durch das Jobcenter H. aufgefordert, sich zur ärztlichen Untersuchung hinsichtlich ihrer Erwerbsfähigkeit zu begeben. In dem Schreiben wurde sie zugleich auf die gesetzlich vorgesehenen nachteiligen Konsequenzen einer unterlassenen Mitwirkung hingewiesen.
Die Untersuchung der Klägerin fand am 04.03.2008 beim ärztlichen Dienst der Beklagten statt. Nach einem Anamnesegespräch und einer körperlichen Untersuchung richtete die mit der Durchführung befasste Vertragsärztin der Beklagten Dr. med. W.-K. an die Klägerin die Frage, ob sie mit einer Blut- und Urinuntersuchung einverstanden sei, mit der insbesondere ein möglicher Missbrauch von Sucht- und Betäubungsmitteln festgestellt werden solle. Die Klägerin erklärte sich hierzu bereit. Streitig ist, ob die Einwilligung freiwillig erfolgte oder durch eine Überrumpelungssituation veranlasst war.
Bei der Untersuchung des daraufhin entnommenen Blutes wurde unter anderem die Blutalkoholkonzentration festgestellt. Die von der Klägerin abgegebene Urinprobe wurde auf Indikatoren für Suchtmittelmissbrauch untersucht (sog. Drogenscreening). Hierbei ergab sich ein positiver Befund in Bezug auf erhöht...