Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf wegen unabweisbarem laufenden besonderen Bedarf. Fahrtkosten zum Pflegeheim. Besuch der Mutter. verwandtschaftliche Bindung. herausgehobene Bedeutung. 2 Besuche die Woche. öffentliches Verkehrsmittel
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, inwieweit regelmäßige Besuchsfahrten zur im Pflegeheim befindlichen Mutter als Mehrbedarf nach § 21 Abs 6 SGB II anerkannt werden können.
Tenor
Unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Freiburg vom 22. Oktober 2019 wird der Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller die Fahrtkosten ab dem 9. August 2019 bis zum 30. April 2020, längstens jedoch bis zur Entscheidung in der Hauptsache, zur Wahrnehmung der Besuche bei seiner Mutter im Klinikum M. , (bis 19. September 2019) bzw. ab 20. September 2019 in der Intensiv-Pflegeeinrichtung in B., zwei Mal pro Woche bis zur Höhe des günstigsten Tickets des Öffentlichen Personennahverkehrs zu gewähren.
Im Übrigen werden die Beschwerde und die Beschwerde gegen die Ablehnung der Gewährung von Prozesskostenhilfe zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller ein Drittel seiner außergerichtlichen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers hat teilweise Erfolg.
Die Beschwerde ist gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und nach §§ 173, 174 SGG insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden.
Die Beschwerde ist auch teilweise begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Ein Anordnungsgrund ist dann gegeben, wenn der Erlass der einstweiligen Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Dies ist der Fall, wenn es dem Antragssteller nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller in Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 12. Auflage 2017, § 86b RdNr. 28). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]). Dabei begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage aufgrund einer summarischen Prüfung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (BVerfG, 2. Mai 2005, 1 BvR 569/05, BVerfGK 5, 237, 242). Allerdings sind die an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs und Anordnungsgrundes zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. BVerfG NJW 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ergebenden Gebots der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) u.U. nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen (BVerfG Beschluss vom 14.3.2019 - 1 BvR 169/19 - juris Rn. 15; LSG Baden-Württemberg vom 13. Oktober 2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B - und vom 6. September 2007 - L 7 AS 4008/07 ER-B - ≪beide juris≫ jeweils unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG).
Entgegen der Ausführungen des Sozialgerichts (SG) hat der Antragsteller in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Der 1974 geborene Antragsteller erfüllt unstreitig die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch (SGB II). Er ist hilfebedürftig. Der Antragsgegner gewährt ihm folgerichtig seit April 2018 Regelleistung gemäß § 20 Abs. 2 S 1 SGB II zzgl. Kosten der Unterkunft und Heizung (vgl. zuletzt Bescheid vom 08.11.2019, Leistungsgewährung bis 31.10.2020).
Der Antragsteller hat auch das Bestehen eines Anspruchs auf einen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II für die regelmäßigen Besuchsfahrten zu seiner Mutter, die sich bis 20.09.2019 im Klinikum M. in R. befunden hat und seither in einer Intensiv-Pflegeeinrichtung in B., Dr. R.-Weg …, untergebracht ...