Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Beschwerde gegen Nichtzulassung der Berufung. Divergenz. bewusstes Aufstellen eines abweichenden Rechtssatzes. keine eindeutige Positionierung gegen einen vom BSG aufgestellten Rechtssatz. erhebliche Modifizierung der höchstrichterlichen Rechtsprechung
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Divergenz iS von § 144 Abs 2 Nr 2 SGG erfordert die Aufstellung eines bewusst von der Rechtsprechung eines der in dieser Vorschrift genannten Gerichte abweichenden Rechtssatzes durch das SG (so bereits LSG Stuttgart vom 25.11.2022 - L 3 AS 2890/22 NZB = juris RdNr 39).
2. Eine Divergenz in diesem Sinne kann auch vorliegen, wenn das SG eine eindeutige Positionierung gegen einen vom BSG aufgestellten Rechtssatz vermeidet, jedoch die näheren Darlegungen erkennen lassen, dass der Rechtsprechung nicht gefolgt werden, sondern diese nur erheblich modifiziert übernommen werden soll (Abgrenzung zu LSG Stuttgart vom 25.11.2022 - L 3 AS 2890/22 NZB = juris RdNr 39; Anschluss an BSG vom 6.10.1977 - 9 BV 270/77 = SozR 1500 § 160 Nr 28 = juris RdNr 5).
Tenor
Auf die Beschwerde des Beklagten wird die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 08.12.2022 zugelassen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgen der Kostenentscheidung in der Hauptsache.
Gründe
I.
Der Beklagte wendet sich gegen die Verurteilung zur Zahlung von 409,85 € an die Klägerin wegen einer Nebenkostenabrechnung für eine nicht mehr von der Klägerin bewohnte Wohnung.
Die 1998 geborene Klägerin wohnte in einer Wohnung in der E1, M1 und bezog dort Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Am 01.03.2022 zog sie nach K1. Seit 01.03.2022 bezog sie aufgrund des Bescheides vom 31.03.2022 in der Form des Änderungsbescheides vom 05.04.2022 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom Beklagten, wobei für den März wegen bereits gezahlter Leistungen eines anderen Jobcenters 0 € bewilligt wurden.
Am 21.04.2022 beantragte die Klägerin beim Beklagten die Übernahme einer Nachzahlung aufgrund der Nebenkostenabrechnung vom 11.04.2022 in Höhe von 409,85 € für die Wohnung in der E1 in M1 für das Jahr 2021. Mit Bescheid vom 28.04.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.05.2022 lehnte der Beklagte die Übernahme der Nachzahlung in Höhe von 409,85 € ab. Die Wohnung in M1 sei zum Zeitpunkt der Rechnungstellung nicht mehr durch die Klägerin bewohnt gewesen und eine Übernahme der Kosten könne daher nicht erfolgen. Erforderlich für die Übernahme der Nebenkostennachforderung sei, dass der Umzug aufgrund einer Kostensenkungsobliegenheit erfolgt sei oder eine Zusicherung zum Umzug vorgelegen habe, der Leistungsberechtigte sowohl während des Abrechnungszeitraums als auch der Fälligkeit der Nebenkostenabrechnung durchgehend im Leistungsbezug gestanden habe und die Nebenkostennachforderung noch nicht beglichen sei.
Auf die deshalb beim Sozialgericht (SG) Karlsruhe am 25.05.2022 erhobene Klage ist der Beklagte mit Urteil vom 08.12.2022 unter Aufhebung des Bescheides vom 28.04.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.05.2022 verurteilt worden, der Klägerin 409,85 € zu zahlen. Eine Betriebskostennachforderung, die sich aus einer Betriebskostenabrechnung ergebe, erhöhe den Bedarf für Kosten der Unterkunft (KdU) im Fälligkeitsmonat. Dies gelte grundsätzlich allerdings nur, wenn die Aufwendungen für die zu diesem Zeitpunkt genutzte Wohnung entstanden seien. Vorliegend betreffe die Nebenkostenabrechnung eine Wohnung, welche die Klägerin nicht mehr tatsächlich nutze. In derartigen Fällen erhöhe sich der aktuelle Bedarf ausnahmsweise, wenn der Leistungsberechtigte sowohl im Zeitpunkt der tatsächlichen Entstehung der Kosten, als auch im Zeitpunkt der Fälligkeit der Nachforderung Leistungen nach dem SGB II bezogen habe und die Aufgabe der bisherigen Wohnung in Erfüllung einer Kostensenkungsobliegenheit gegenüber dem Leistungsträger erfolgt sei und keine andere Bedarfsdeckung eingetreten sei. Ebenso sei der Bedarf zu berücksichtigen, wenn der Leistungsberechtigte durchgehend seit dem Zeitraum, für den die Nebenkostennachforderung erhoben werde, bis zu deren Geltendmachung und Fälligkeit im Leistungsbezug nach dem SGB II gestanden habe und eine Zusicherung hinsichtlich des Umzugs während des Bezugs von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vorgelegen habe (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 30.03.2017 - B 14 AS 13/16 R). In diesen Konstellationen bestehe nach den genannten Entscheidungen eine existenzsicherungsrechtlich relevante Verknüpfung der Nebenkostennachforderung für die in der Vergangenheit bewohnte Wohnung mit dem aktuellen unterkunftsbezogenen Bedarf, weil die Entstehung der Nachforderung und ihre Fälligkeit einen Zeitraum der ununterbrochenen Hilfebedürftigkeit betreffe. Die genannten Fallgruppen aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung seien nicht abschließend (hierzu und im Folgenden Verweis auf LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23.05.2019 - L 7 AS 1440/18) und die d...