Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Versorgung mit Cannabis bei ADHS. keine schwerwiegende Erkrankung. schwache Evidenz
Leitsatz (amtlich)
1. ADHS bei Erwachsenen ist nicht generell oder regelhaft als schwerwiegende Erkrankung im Sinne von § 31 Abs 6 S 1 SGB V einzustufen.
2. Die Evidenz für eine Reduktion der ADHS-Kernsymptomatik durch Einsatz von Cannabinoiden ist derzeit bei weitgehend unklarem Nebenwirkungsprofil schwach.
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Mannheim vom 9. Dezember 2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt von seiner Krankenkasse im einstweiligen Rechtschutz die vorläufige Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten als Arzneimittel zur Behandlung einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS).
Der 1972 geborene Antragsteller ist als Bezieher von Arbeitslosengeld II bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert. Er leidet an ADHS sowie an depressiven Episoden. Am 4. August 2021 verordneten ihm die J wegen chronischer Schmerzen „THC privat“ in Form von Bediol 10 g und Bedrobinol 10 g für 10 Tage ab Ausstellungsdatum (Tagesmenge max. 4 × 0,25 g zur Inhalation/Applikation). Diese Verordnung reichte der Antragsteller am 6. August 2021 als „Musterrezept“ zusammen mit einem von den behandelnden Allgemeinmedizinern ausgefüllten Arztfragebogen zu Cannabinoiden bei der Antragsgegnerin ein. In dem Fragebogen gaben J unter dem 4. August 2021 an, auf Empfehlung des Neurologen und Psychiaters solle dem Antragsteller entsprechend dem ausgestellten Rezept Cannabisblüten zur Behandlung von ADHS verordnet werden, um seine Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Alle Standardtherapien seien mit nur mäßigem Erfolg ausprobiert worden. Die Medikation mit Medikinet sei nach Nebenwirkungen wieder abgesetzt worden. Beim Antragsteller bestünden noch andere Erkrankungen, nämlich ein Restless-Legs-Syndrom sowie tachykarde Herzrhythmusstörungen. Literatur, aus der hervorgehe, dass durch die beabsichtigte Therapie eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome bestehe, sei nicht bekannt. Dem Arztfragebogen war ein Befundbericht des S vom 24. Juli 2021 (Diagnosen: mittelgradige depressive Episode, ADHS; Anamnese: sehr unruhig, hat sich schon sehr lange mit Cannabis in Selbsttherapie gegen die Unruhe behandelt; Therapie und Verlauf: Aus der berichtetem Anamnese seien keine Kontraindikationen gegen eine Therapie mit medizinischem Cannabis zu erkennen) sowie ein Befundbericht der B vom 16. Juni 2021 (Diagnose: schädlicher Gebrauch von Cannabinoiden; es bestehe ein regelmäßiger Cannabiskonsum; alle Testergebnisse zeigten einen eindeutig positiven Befund für ADHS; Beginn einer medikamentösen Behandlung mit Medikinet adult) beigefügt.
Mit Bescheid vom 10. August 2021 lehnte die Antragsgegnerin die Übernahme der Kosten für das beantragte Arzneimittel Cannabisblüten ab. Die entsprechenden Fachgesellschaften hätten in ihrer Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“ die Therapie mit Cannabinoiden nicht empfohlen. Zum aktuellen Zeitpunkt bestünden auch keine Hinweise darauf, dass Cannabinoide bei ADHS den Verlauf und die Ausprägung bei akzeptabler Verträglichkeit spürbar positiv beeinflussten. Für Patienten, die eine Anamnese von Suchtmittelmissbrauch hätten, bestehe in den Fachinformationen cannabishaltiger Arzneimittel ein besonderer Warnhinweis, der vom behandelnden Arzt in seiner Therapieentscheidung zu bedenken sei.
Hiergegen legte der Antragsteller Widerspruch ein und stellte am 28. Oktober 2021 beim Sozialgericht (SG) Mannheim einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit welchem er die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Übernahme der Kosten für die beantragte Therapie begehrte. Zur Begründung trug er vor, in seinem Fall werde mit der Cannabis-Therapie das Störungsbild ADHS mit zusätzlich starken Schlafstörungen behandelt. Aufgrund der Symptome starke innere Unruhe und Schlaflosigkeit handele es sich um ein schwerwiegendes Leiden, das erhebliche Auswirkungen auf seine Erwerbsbiografie sowie Lebensqualität habe. Die alternativen Medikamente Medikinet sowie Elvanse wirkten zwar erfolgreich gegen die ADHS Symptome, seien aber für ihn mit Kreislaufbeschwerden sowie weiteren gravierenden Nebenwirkungen verbunden und linderten auch nicht seine Schlafprobleme. Beide Medikamente dürften laut Beipackzettel bei Kreislaufproblemen nicht verordnet werden. Bei ihm bestehe eine erhebliche familiäre Vorbelastung durch Herzinfarkte der beiden Großväter sowie väterlicherseits. Seit der Antragstellung sei ihm das Medizinal-Cannabis auf Privatrezept verordnet worden. Dadurch habe die starke innere Unruhe und Schlaflosigkeit erfolgreich gelindert und die ADHS-Medikamente wieder abgesetzt we...