Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Abänderbarkeit von Eilentscheidungen
Leitsatz (amtlich)
1. Einstweilige Anordnungen ist sind in analoger Anwendung des § 86b Abs 1 S 4 SGG abänderbar.
2. Die Abänderung ist trotz des Merkmals der "Jederzeitigkeit" in § 86b Abs 1 S 4 SGG nicht in das Belieben des Gerichts gestellt. Eine Abänderungsbefugnis kommt deshalb nur bei nachträglich eingetretener oder bekanntgewordener Änderung der Sachlage, bei Gesetzesänderungen sowie aufgrund zwischenzeitlich ergangener höchstrichterlicher Rechtsprechung veränderter Beurteilung der Rechtslage und ferner dann in Betracht, wenn auf der Grundlage besserer Rechtserkenntnis und der darauf folgenden neuen Prozesslage für die Anpassung an die Entwicklung in der Hauptsache ein Bedürfnis besteht; dies ist etwa bei schweren Tatsachen- und Rechtsirrtümern des Gerichts oder ihm unterlaufenen schweren Verfahrensfehlern der Fall.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Konstanz vom 10. Juni 2010 abgeändert. Der Antragsteller wird in Abänderung des Beschlusses vom 27. Januar 2010 (S 3 SO 31/10 ER) verpflichtet, dem Antragsgegner für die Zeit vom 12. April bis 31. Juli 2010 darlehensweise Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Höhe 358,15 Euro (April) sowie von monatlich 565,41 Euro (Mai bis Juli) abzüglich bereits geleisteter Zahlungen in Höhe von insgesamt 1.141,00 Euro zu gewähren.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsteller hat dem Antragsgegner die außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Gründe
Die unter Beachtung der §§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - (in der hier noch anzuwendenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des SGG und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 ≪BGBl. I S. 444≫) eingelegte Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig und im Umfang des Beschlussausspruchs auch begründet.
Mit dem Sozialgericht Konstanz (SG) geht auch der Senat davon aus, dass der Antragsteller mit seinen zum Hauptsacheverfahren S 3 SO 73/10 sowie zum Verfahren S 3 SO 31/10 ER gelangten Schriftsätzen vom 9. und 15. April 2010 eine Abänderung des unangefochten gebliebenen und damit rechtskräftig gewordenen Beschlusses vom 27. Januar 2010 (S 3 SO 31/10 ER) erreichen möchte. Mit diesem Beschluss hatte das SG dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung insoweit stattgegeben, als der Antragssteller verpflichtet wurde, dem Antragsgegner ab 7. Januar 2010 “vorläufig darlehensweise Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ohne Berücksichtigung des PKW Volvo V40 als Vermögen zu gewähren„.
Eine derartige Abänderungsmöglichkeit von Eilentscheidungen ist im SGG ausdrücklich allerdings nur in § 86b Abs. 1 Satz 4 SGG für Anfechtungssachen vorgesehen; in § 86b Abs. 2 SGG, der den einstweiligen Rechtsschutz in Vornahmesachen regelt und insoweit § 123 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 und 5 der Verwaltungsgerichtsordnung ≪VwGO≫ nachgebildet ist (vgl. auch BT-Drucks. 14/5943 S. 25 ≪zu Nr. 34, § 86b≫), fehlt dagegen eine entsprechende Bestimmung. Dennoch besteht in Rechtsprechung und Schrifttum weitgehend Einigkeit darüber, dass auch bei einstweiligen Anordnungen, die der formellen und materiellen Rechtskraft fähig sind (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 8. September 2010 - L 7 SO 3038/10 ER-B -≪m.w.N.≫), dem im Einzelfall bestehenden Bedürfnis nach Aufhebung oder Abänderung aus Gründen der Effektivität des Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes) Rechnung zu tragen ist (vgl. Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫ BVerfGE 92, 245, 260; Landessozialgericht ≪LSG≫ Berlin, Beschlüsse vom 10. Juli 2002 - L 15 B 39/02 KR ER - NZS 202, 670 und vom 26. Oktober 2004 - L 15 B 88/04 KR ER -; Bay. LSG, Beschluss vom 16. Juli 2009 - L 8 SO 85/09 B ER - ≪beide juris≫; Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Auflage, Rdnr. 335; Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 9. Auflage, §86b Rdnr. 45; Binder in Hk-SGG, 3. Auflage, § 86b Rdnr. 53; Hommel in Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 86b SGG Rdnr. 106; zu § 123 VwGO vgl. nur Verwaltungsgerichtshof ≪VGH≫ Baden-Württemberg, Beschluss vom 6. Dezember 2001 - 13 S 1824/01 - NVwZ-RR 2002, 908; Niedersächs. Oberverwaltungsgericht ≪OVG≫, Beschluss vom 18. Mai 2010 - 8 ME 111/10 - DVBl. 2010, 926; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 5. Auflage, Rdnr. 486; Puttler in Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Auflage, § 123 Rdnr. 128). Dies ist jedenfalls für zusprechende einstweilige Anordnungen (vgl. hierzu etwa Keller in Meyer-Ladewig u.a., a.a.O., Rdnr. 45; Binder in Hk-SGG, a.a.O., Rdnr. 5; ferner BVerfGE 92, 245, 260; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 6. Dezember 2001 a.a.O.; Funke-Kaiser in Bader u.a., VwGO, 4. Auflage, § 123 Rdnrn. 64, 67) - wie hier - nicht umstritten, fraglich vielmehr nur, wie diese vom Gesetzgeber ersichtlich übersehene Gesetzeslücke zu schließen ist. Für den einstweiligen Rechtsschutz in...