Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Entscheidung über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB 12 ist ggf eine Güter- und Folgenabwägung vorzunehmen (vgl BVerfG vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05 = Breith 2005, 803).
2. Die Leistungsverpflichtung in einer einstweiligen Anordnung ist idR auf einen Zeitpunkt ab Antragstellung bei Gericht und auf darlehensweise Bewilligung auszusprechen.
3. Die mit der Ausübung eines Umgangsrechts nach § 1684 Abs 1 BGB mit einem leiblichen Kind verbundenen Aufwendungen eines Empfängers von Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB 12 können eine bedarfsauslösende, vom Träger der Sozialhilfe zu übernehmende Lebenslage darstellen.
Orientierungssatz
1. Die in § 1684 Abs 1 BGB geregelten Rechte und Pflichten des Umgangs der Eltern mit dem Kind stehen unter dem Schutz des Art 6 Abs 2 S 1 GG.
2. Als Kosten für die Ausübung des Umgangsrechts mit dem getrennt lebenden Kind sind nicht nur die Fahrkosten, sondern auch die Versorgungs- bzw Verpflegungskosten für das Kind zu berücksichtigen.
3. Es bleibt offen, ob für derartige Bedarfssituationen auf die Öffnungsklausel des § 28 Abs 1 S 2 SGB 12 oder auf die Rechtsgrundlage in § 73 SGB 12 zurückzugreifen ist.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 20. April 2005 - S 3 SO 780/05 ER - abgeändert.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vom 15. März 2005 bis zum bestandskräftigen Abschluss des Widerspruchsverfahrens, längstens jedoch bis 31. Oktober 2005 für jeden Tag der Ausübung des Umgangsrechts mit der Tochter B. vorläufig Kosten für deren Verpflegung als Darlehen zu gewähren, wobei bei der Berechnung ein diesbezüglicher Bedarf von täglich € 4,40 zugrunde zu legen und weiter das Einkommen des Antragstellers anzurechnen ist.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
Tatbestand
Im vorliegenden Beschwerdeverfahren ist noch umstritten, ob die Antragsgegnerin - über die Fahrtkosten hinaus - zur Übernahme der dem Antragsteller im Zusammenhang mit der Wahrnehmung des Umgangsrechts entstehenden Aufwendungen nach den Vorschriften des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) verpflichtet ist.
Der 1945 geborene Antragsteller bezieht aus der gesetzlichen Rentenversicherung eine bis 31. Dezember 2005 befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Antragsgegnerin gewährt ihm außerdem seit 1. Januar 2005 - unter Anrechnung dieser Rente als Einkommen - Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII (befristet bis 30. November 2005). Der Antragsteller lebt von seiner Ehefrau getrennt; aus der Ehe ist die 2001 geborene Tochter B. hervorgegangen, welche bei der Mutter in E. lebt. Im Rahmen einer am 15. September 2004 vor dem Familiengericht X. geschlossenen Vereinbarung wurde hinsichtlich des Umgangsrechts des Antragstellers geregelt, dass der Antragsteller seine Tochter an jedem Wochenende in der Zeit von Freitagnachmittag zum Kindergartenschluss abholt und am darauffolgenden Sonntagabend um 18.00 Uhr an die Wohnanschrift der Mutter zurückbringt; eine Sorgerechtsregelung wurde bislang nicht getroffen. Die Zahlung des Kindergeldes erfolgt an die Mutter; diese bezieht vom Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) Arbeitslosengeld II einschließlich eines Mehrbedarfs für Alleinerziehende, das Kind erhält Sozialgeld, wobei das Kindergeld, ferner Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz vom Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft abgezogen werden.
Am 15. März 2005 hat der Antragsteller beim Sozialgericht (SG) Reutlingen den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt und gleichzeitig Klage (S 3 SO 782/05) erhoben. Mit Bescheid vom 23. März 2005 hat die Antragsgegnerin dem Antragsteller die Fahrtkosten für die Ausübung des Umgangsrechts für die Monate Oktober bis Dezember 2004 in Höhe der Kosten für öffentliche Verkehrsmittel als Beihilfe nach den Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) bewilligt und mit einem zweiten Bescheid vom 23. März 2005 u.a. über den weitergehenden Antrag für die vorgenannte Zeit ablehnend entschieden. Durch Bescheid vom 1. April 2005 hat die Antragsgegnerin u.a. die Übernahme der Umgangskosten ab 1. Januar 2005 abgelehnt; gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller - wie bereits gegen früher ergangene Bescheide - bei der Antragsgegnerin Widerspruch eingelegt. Das SG hat die Antragsgegnerin mit Beschluss vom 20. April 2005 verpflichtet, dem Antragsteller seine durch die Ausübung des vereinbarten Umgangsrechts mit seiner Tochter entstehenden Fahrtkosten in Höhe der Kosten für die preisgünstigste Verkehrsverbindung zwischen R. und E. mit dem öffentlichen Nahverkehr vorläufig, längstens zum 31. Oktober 2005 zu übernehmen, und den Antrag im Übrigen abgelehnt. In den Gründen hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Mehrbedarf...