Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Bedarfsgemeinschaft. Anhaltspunkte für ein dauerndes Getrenntleben von Ehegatten. Feststellungslast
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Frage, ob der Ehegatte iS von § 7 Abs 3 Nr 3 Buchst a SGB 2 nicht dauernd getrennt lebt, kann auf die schon lange bestehende Rechtsprechung des BFH zu § 26 Abs 1 S 1 EStG zurückgegriffen werden.
2. Danach ist ein dauerndes Getrenntleben dann gegeben, wenn die zum Wesen der Ehe gehörende Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft endgültig aufgehoben worden ist, wobei dieser Beurteilung in erster Linie äußerlich erkennbare Umstände zugrundezulegen sind und dem räumlichen Zusammenleben besondere Bedeutung zukommt (vgl BFH vom 18.7.1996 - III R 90/95 = BFH/NV 1997, 139 mwN).
Orientierungssatz
Der Hilfebedürftige trägt die Feststellungslast dafür, dass ein dauerndes Getrenntleben der Ehegatten nicht festgestellt werden kann.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 29. Juni 2005 aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab 3. Mai 2005 vorläufig höheres Arbeitslosengeld II ohne Annahme einer Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Ehemann H. G. zu gewähren.
Soweit die Leistung die unter Annahme einer Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Ehemann bewilligte Leistung übersteigt, wird die höhere Leistung als Darlehen gewährt.
Die einstweilige Anordnung wird - unter dem Vorbehalt des Weiterbestehens der Hilfebedürftigkeit - zeitlich begrenzt bis längstens 31. Dezember 2005.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin deren außergerichtliche Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist zulässig und sachlich begründet.
Den erst- und zweitinstanzlichen Ausführungen der Antragstellerin ist zu entnehmen, dass es ihr mit dem im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verfolgten Begehren ausschließlich darum geht, dass ihr das Arbeitslosengeld (Alg) II (Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung, vgl. § 19 Satz 1 Nr. 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch [SGB II]) vorläufig ohne Annahme einer Bedarfsgemeinschaft mit dem Ehemann H. G. gewährt wird. Aus dem Vorbringen der Antragstellerin ergibt sich kein Anhalt, dass sie sich im einstweiligen Rechtsschutz auch gegen die erstmals im Verfügungssatz 2 des Widerspruchsbescheids vom 10. Mai 2005 getroffene und die Bewilligung vom 30. November 2004 abändernde Feststellung, dass ihr vom 1. Januar bis 30. Juni 2005 Alg II lediglich in Höhe von monatlich 561,50 € zusteht, wendet und insoweit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) begehrt. Nach § 39 Nr. 1 SGB II hat die Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheidet, nämlich keine aufschiebende Wirkung. Da eine isolierte Anfechtungsklage insoweit nur in Betracht kommt, wenn ein Verwaltungsakt in durch Verwaltungsakt zuerkannte Rechtspositionen, auch durch deren Missachtung eingreift, ein solcher Eingriff, nämlich in die frühere Bewilligung, hier aber vorliegt, hat die gegen den Widerspruchsbescheid gerichtete Anfechtungsklage abweichend von § 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung. Weil aber diese Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht begehrt wird, braucht der Senat nicht darüber zu entscheiden und hat auch das Sozialgericht nicht entschieden, so dass eine die Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage einbeziehende Interessenabwägung unterbleiben kann; es braucht deshalb nicht darauf eingegangen zu werden, welche Bedeutung die im Verfügungssatz des Widerspruchsbescheides getroffene die Bindungswirkung der Bewilligung vom 30. November 2004 missachtende Feststellung hat, ob diese und die lediglich in den Gründen des Widerspruchsbescheides nach § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 45 Abs. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) verfügte Zurücknahme der Bewilligung für die Zeit ab 1. Juni 2005 gegen das Gebot vorheriger Anhörung nach § 24 Abs. 1 SGB X verstoßen und ein solcher Verfahrensfehler noch gemäß § 41 Abs. 2 SGB X geheilt werden könnte, sowie ob die Antragsgegnerin, ggf. noch heilbar, bei der Zurücknahme das hierfür vorausgesetzte Ermessen ausgeübt hat, weil Ausführungen über das Fehlen eines Vertrauensschutzes nach § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X die Ermessensentscheidung nicht ersetzen (Bundessozialgericht [BSG] in BSGE 59, 157, 170; BSG SozR 1300 § 50 Nr. 15; Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 8. Juni 1989 - 5 C 68/86 - in ZfS 1989, 377, 380).
Die hier nur in Betracht kommende Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG ist begründet. Die Antragsgegnerin ist zu verpflichten, der Antragstellerin für die Zeit der nachgewiesenen Rechtshängigkeit der einstweiligen Anordnung, das ist der 3. Mai 2005, vorläufig höheres Alg II o...