Entscheidungsstichwort (Thema)
Kürzung des Zugangsfaktors bei "vorzeitiger" Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung trotz Leistungsverbesserungen durch das RVLVG weiterhin verfassungsgemäß
Orientierungssatz
Die Regelung zur Kürzung des Zugangsfaktors bei "vorzeitiger" Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung ist nicht durch das RVLVG verfassungswidrig geworden.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 8. Januar 2018 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt eine höhere Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 1,0 statt 0,892.
Mit Ausführungsbescheid vom 19. Mai 2015 gewährte die Beklagte der am 19. Mai 1963 geborenen Klägerin ausgehend von einem Leistungsfall am 1. Dezember 2011 bis zum 31. März 2030 (Monat des Erreichens der Regelaltersgrenze) eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, beruhend auf dem Prozessvergleich vor dem Landessozialgericht vom 26. Februar 2015 (Az.: L 9 R 4506/13). Bei der Rentengewährung legte die Beklagte wegen Inanspruchnahme der Rente vor Vollendung des 63. Lebensjahres einen verminderten Zugangsfaktor von 0,892 zu Grunde (Anlage 6 zum Bescheid).
Hiergegen erhob die Klägerin am 26. Mai 2015 Widerspruch. Die Kürzung des Zugangsfaktors nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) sei verfassungswidrig.
Mit Widerspruchsbescheid vom 16. Juni 2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 9. Juli 2015 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, der von der Beklagten zitierte Beschluss des BVerfG spreche auf Grund des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes nicht gegen, sondern für ihre Auffassung. Die Kürzung des Zugangsfaktors auch noch nach Inkrafttreten des RV - Leistungsverbesserungsgesetzes verstoße gegen die Eigentumsgarantie aus Artikel 14 Grundgesetz (GG).
Die Beklagte ist der Klage entgegen getreten. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die Minderung des Zugangsfaktors beruhe auf § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI in der Fassung vom 20. Dezember 2000. Diese Minderung sei bereits vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als vereinbar mit dem Grundgesetz betrachtet worden (Beschluss vom 11. Januar 2011, Az.: 1 BvR 3588/08 und 1 BvR 555/09). Demnach sei die Minderung geeignet und erforderlich, um die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung sicher zu stellen und sie belaste die Betroffenen nicht übermäßig, zumal im Gegenzug die Zurechnungszeit aufgewertet werde. Von den Neuregelungen des zum 1. Juli 2014 in Kraft getretenen RV-Leistungsverbesserungsgesetzes sei die Klägerin bei ihrem Rentenbeginn zum 1. Dezember 2011 nicht betroffen. Diese Neuregelung gelte nur für alle neuen Renten ab 1. Juli 2014.
Mit Gerichtsbescheid vom 8. Januar 2018 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen auf die zutreffenden Gründe des Widerspruchsbescheides vom 16. Juni 2015 Bezug genommen. Weiter hat es ausgeführt, dass § 77 SGB VI auch seit Inkrafttreten des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken begegne. Einen Anspruch auf abweichend von § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI abschlagsfreie Rente wegen Erwerbsminderung könne die Klägerin insbesondere nicht aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. den RV-Leistungsverbesserungsgesetz vom 1. Juli 2014 ableiten. Denn insoweit lägen keine gleichgelagerten Sachverhalte vor, deren gleiche Behandlung verfassungsrechtlich geboten wäre. Der Gesetzgeber habe im Übrigen auch unter Beachtung der grundrechtlichen Eigentumsgarantie, deren Inhalt und Schranken er selbst bestimme, bzgl. seiner Pflicht zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums einen breiten Gestaltungsspielraum bei Einführung, Einschränkung oder Erweiterung sozialversicherungsrechtlicher Leistungsansprüche. Auch fiskalische Erwägungen seien hierbei grundsätzlich zulässig. Solche könne der Gesetzgeber entsprechend seiner jeweiligen Zielvorstellungen im Laufe der Zeit unterschiedlich stark gewichten, ohne gleich mit der Verfassung in Konflikt zu geraten.
Gegen das dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis am 11. Januar 2018 zugestellten Gerichtsbescheid hat dieser für die Klägerin am 19. Januar 2018 schriftlich beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Diese begründet er damit, dass die Beschlüsse des BVerfG vom 11. Januar 2011 die Auffassung der Klägerin stützten. Das BVerfG habe klar hergeleitet, wann ein Eingriff in von Art. 14 GG gestützten Rentenanwartschaften und Rentenansprüche zulässig sei und wann nicht. Nur die finanzielle Notsituation der gesetzlichen Rentenversicherung rechtfertige einen Eingriff in Rentenanwartschaften. Durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz vom 1. Juli 2014 sei jedoch bewiesen, dass d...