Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung wegen Änderung der Verhältnisse. wesentliche Änderung. Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Besuch des Förder- und Betreuungsbereichs einer WfbM. Erreichen der Regelaltersgrenze

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Förder- und Betreuungsbereich einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen, der nach § 136 Abs 3 SGB IX einer Werkstatt für behinderte Menschen unter ihrem sogenannten "verlängerten Dach" räumlich und/oder organisatorisch angegliedert ist, ist nicht Teil der Werkstatt für behinderte Menschen selbst (Anschluss an BSG vom 18.1.2011 - B 2 U 9/10 R = BSGE 107, 197 = SozR 4-2700 § 2 Nr 17 RdNr 21).

2. Der Eintritt der Regelaltersgrenze (hier 65 Jahre) stellt keine wesentliche Änderung hinsichtlich der Leistungsbewilligung von Leistungen der Eingliederungshilfe für den Förder- und Betreuungsbereich iS von § 48 SGB X dar.

 

Normenkette

SGB IX § 136 Abs. 3, 1 Sätze 1-2, Abs. 2, §§ 40-42, 79; SGB XII § 2 Abs. 1 S. 1, §§ 41, 53 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 2, § 54 Abs. 1 S. 1, § 55 Abs. 2 Nrn. 3, 7; SGB X § 48 Abs. 1 S. 1; SGG § 54 Abs. 1

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 31. März 2016 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger und dem Beigeladenen die jeweiligen außergerichtlichen Kosten für das Berufungsverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten steht im Streit, ob dem Kläger über den 31. Dezember 2012 hinaus Eingliederungshilfe im sogenannten Förder- und Betreuungsbereich oder lediglich im Rahmen der Tagesbetreuung für Senioren zusteht.

Der geborene Kläger ist gehörlos und geistig behindert. Er kann nur durch eigene Gebärden und Laute kommunizieren und ist nicht in der Lage, sich alleine zu Fuß fortzubewegen. Er wohnt seit dem 9. Januar 2015 im Wohnheim der St. G. in W.. Zuvor wohnte er bei seiner Schwester und deren Mann, welche die tägliche Pflege und Versorgung des Klägers jedoch nicht mehr sicherstellen konnten.

Bereits seit 1975 wird der Kläger im Förder- und Betreuungsbereich der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) der Beigeladenen in K. betreut.

Mit Bescheid vom 24. März 2005 hatte der Beklagte dem Kläger ab dem 1. Januar 2005 Eingliederungshilfe bis auf Weiteres für den Förder- und Betreuungsbereich der Beigeladenen bewilligt (für die Zeit vor dem 1. Januar 2005 war der Landeswohlfahrtsverband zuständiger Sozialhilfeträger). Im Rahmen dieser Eingliederungsmaßnahme wird der Kläger in der Einrichtung von Montag bis Freitag in einer Gruppe von ca. sieben Personen von zwei Fachkräften betreut. Daneben erhält der Kläger weitere Leistungen der Eingliederungshilfe, unter anderem im Zusammenhang mit dem betreuten Wohnen in der St. G.-Hilfe.

Mit Bescheid vom 29. November 2012 stellte der Beklagte die Kostenübernahme aus dem Bescheid vom 24. März 2005 für den Förder- und Betreuungsbereich in der WfbM zum 31. Dezember 2012 mit der Begründung ein, dass der Kläger im November 2012 das 65. Lebensjahr vollendet habe und daher Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht mehr in Betracht kämen.

Hiergegen erhob der Kläger über seinen Prozessbevollmächtigten Widerspruch mit der Begründung, dass es dem Anspruch auf Betreuung in der Förder- und Betreuungsgruppe nicht entgegenstünde, dass der Kläger das 65. Lebensjahr vollendet habe. Aufgabe und Ziel des Förder- und Betreuungsbereiches sei keine Eingliederung in das Arbeitsleben, sondern die Teilhabe an der Gemeinschaft zu fördern. Der Kläger sei aufgrund seines psychischen und physischen Gesundheitszustandes auf die Förder- und Betreuungsgruppe angewiesen. Jede Veränderung des Tagesablaufes führe zu einer Verschlechterung seines Wohlbefindens und er reagiere hierauf mit Selbstverletzungen. Hilfsweise wurden Leistungen der Tagesstruktur in einer Seniorengruppe beantragt, auch wenn angemerkt wurde, dass die Betreuung für den Kläger nicht ausreichend sei.

Nach einer Anhörung mit Schreiben vom 31. Januar 2013 wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 2013 zurück. Beim Förder- und Betreuungsbereich handele es sich um einen Teilbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen im Sinne des § 138 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX). Nach § 136 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sei eine Werkstatt eine Einrichtung zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben und zur Eingliederung in das Arbeitsleben. Durch das Erreichen der Regelaltersgrenze sei dieser Zweck nicht mehr erfüllbar, sodass eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) eingetreten und der Verwaltungsakt mit Dauerwirkung damit aufzuheben sei.

Dagegen hat der Kläger durch seinen Bevollmächtigten am 3. April 2013 Klage zum Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, dass der Förder- und Betreuungsbereich k...

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