Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Cannabis. schwerwiegende Erkrankung. Anspruch nur bei Nichtvorliegen oder nachgewiesener Unverträglichkeit einer Standardtherapie. Grundsatz zur evidenzbasierten Medizin. Erforderlichkeit einer nachvollziehbaren begründeten Einschätzung eines Vertragsarztes gem § 31 Abs 6 S 1 Nr 1 Buchst b SGB 5
Orientierungssatz
1. Für die nach § 31 Abs 6 S 1 SGB 5 erforderliche Beurteilung des Vorhandenseins einer dem medizinischen Standard entsprechenden Leistung ist auf die Grundsätze der evidenzbasierten Medizin abzustellen. Insofern besteht ein Anspruch auf eine Versorgung mit Cannabisarzneimitteln trotz schwerwiegender Erkrankung nur dann, wenn keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung steht oder nachgewiesenermaßen nicht vertragen wird.
2. Zur Erfüllung des § 31 Abs 6 S 1 Nr 1 Buchst b SGB 5 ist eine begründete, schlüssige und nachvollziehbare Einschätzung eines Vertragsarztes erforderlich. Diese muss die zu erwartenden Nebenwirkungen der Standardtherapie, die Dokumentation über den Krankheitszustand des Versicherten und eine Begründung zur Nichtanwendung der Standardtherapie beinhalten.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 05.01.2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Versorgung mit Cannabis-Arzneimitteln nach § 31 Abs 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) streitig.
Die 1973 geborene Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse krankenversichert.
Im August 2019 beantragte die Klägerin erstmalig die Versorgung mit Cannabis-Arzneimitteln unter Vorlage des „Arztfragebogens zu Cannabinoiden nach § 31 Abs. 6 SGB V“ des B vom 25.07.2019. Die Verordnung solle durch den T wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (seit 2001), chronischen Wirbelsäulenschmerzen (seit 1999) und Migräne (2001) mit den Zielen Schmerzlinderung, Verbesserung des Allgemeinbefindens und Stressabbau erfolgen. Nachdem der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) (Gutachten des N vom 12.08.2019 sowie des S vom 06.11.2019) die medizinischen Voraussetzungen als nicht erfüllt angesehen hatte, lehnte die Beklagte den Antrag ab (Bescheid vom 28.08.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.12.2019).
Am 24.03.2020 beantragte die Klägerin bei der Beklagten erneut die Versorgung mit Cannabis-Arzneimitteln nach § 31 Abs 6 SGB V und legte ein ärztliches Attest des T vom 23.03.2020 bei. Dieser teilte mit, dass die Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten Bedrocan mit den Wirkstoffen THC und CBD in der Verordnungsmenge in 30 Tagen 40 bis 50 gr bei einer Tagesdosis von 1,3 bis 1,6 gr in der Darreichungsform Vaporisation geplant sei. Bei der Klägerin bestehe Multimorbidität, eine posttraumatische Belastungsstörung nach einer schwer traumatisierenden Misshandlung im Juli 2001, Migräne mit Aura (mit großer Wahrscheinlichkeit Teil der posttraumatischen Belastungsstörung), eine chronische Schmerzkrankheit bei Zustand nach Sprunggelenksdistorsion rechts mit Bänderriss 2018, Retropatellararthrose und Sehnenansatztendinose der linken Kniescheibe, Bandscheibenvorfälle Segment LWK5/SWK1, Osteochondrose der Wirbelsäule, Arthrose der kleinen Facettengelenke, ein Stress-Syndrom, eine kombinierte depressive und Angststörung, eine Schlafstörung, Dysmenorrhö (krampf- oder kolikartige Schmerzen während der Menstruation) und Hyperhidrosis (übermäßiges Schwitzen). Behandlungsziele seien die Linderung der Folgen der posttraumatischen Belastungsstörung, Verbesserung von Depression, Angststörung, Schlafstörungen, Stressabbau, Schmerzlinderung sowie die Verbesserung der Lebensqualität. Es sei eine medizinische Versorgung erforderlich, ohne die - nach ärztlicher Einschätzung - eine lebensbedrohliche Verschlimmerung, eine Verminderung der Lebenserwartung oder eine dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität durch die zugrundeliegende schwerwiegende Erkrankung zu erwarten sei. Die Multimorbidität begründe den Schweregrad. Die Leiden der Klägerin hätten bereits im Alter von 23 Jahren begonnen. Bei der Klägerin liege nach seiner Einschätzung ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 bis 70 vor, der bisher mit 30 anerkannte GdB sei viel zu gering bemessen. Die Klägerin finde keinen ihren Leiden gemäßen Arbeitsplatz, obwohl sie vier Ausbildungen habe. Zur Medikation nehme sie Cannabis. Wenn sie kein Cannabis zur Verfügung habe, weil sie sich es nicht leisten könne, nehme sie Trazodon (Serotonin-Wiederaufnahmehemmer mit sedierender und antidepressiver Wirkung), Naproxen (nichtsteroidales Antiphlogistikum, schmerzlindernd, fiebersenkend und entzündungshemmend) und Novaminsulfon (nichtopioidhaltiges Analgetika mit schmerzstillender und fiebersenkender Wirkung). Weiterhin absolviere die Klägerin Reha-Sport. Eine Wiederaufnahme der Psychotherapie wegen der posttrau...