Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit der Regelungen zur Bestimmung der Hinzuverdienstgrenzen für eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung
Leitsatz (amtlich)
Die Hinzuverdienstgrenzen für eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dem Gesetzgeber steht bei der konkreten Berechnungsweise ein Gestaltungsspielraum zu. Die Anknüpfung der Berechnungsweise an die Geringfügigkeitsgrenze des § 8 Abs 1 SGB IV ist nicht willkürlich. Für eine Berechnung allein unter Ansatz der Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden (unabhängig von der Höhe des Verdienstes) besteht verfassungsrechtlich keine Veranlassung.
Orientierungssatz
Zum Leitsatz vgl BSG vom 31.1.2008 - B 13 R 23/07 R, vom 28.4.2004 - B 5 RJ 60/03 R = SozR 4-2600 § 313 Nr 3 und vom 6.2.2007 - B 8 KN 3/06 R = SozR 4-2600 § 96a Nr 9 sowie BVerfG vom 14.6.2007 - 1 BvR 154/05 = SozR 4-2600 § 96a Nr 10.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 12.07.2018 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Auszahlung ihrer Rente wegen Erwerbsminderung in voller Höhe ohne Verminderung aufgrund Überschreitens von Hinzuverdienstgrenzen.
Die 1964 geborene Klägerin bezieht seit dem 01.08.2015 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer. Die Klägerin und die Beklagte schlossen im März 2016 vor dem Sozialgericht Reutlingen (≪SG≫; S 8 R 1475/14) einen entsprechenden Vergleich. Vom 01.08.2015 bis 08.04.2016 übte sie eine Bürohilfstätigkeit in der Rechtsanwaltskanzlei ihres Ehemanns und Prozessbevollmächtigten aus. In den Monaten August, September und Oktober 2015 verdiente sie jeweils 512,50 € brutto und in den Monaten November 2015 bis März 2016 jeweils 750,00 € brutto. Im April 2016 verdiente sie insgesamt 449,25 € brutto.
Mit Rentenbescheid vom 09.06.2016 setzte die Beklagte den Zahlbetrag der Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.07.2016 in Höhe von 917,49 € fest (1.026,85 € abzgl. 74,96 € Krankenversicherung, 10,27 € Zusatzbeitrag zur Krankenversicherung, 24,13 € Pflegeversicherung). Die Nachzahlung für die Zeit vom 01.08.2015 bis 30.06.2016 bezifferte sie auf 7.784,89 €. Dabei setzte sie unter Berücksichtigung der individuellen Hinzuverdienstgrenze für die Zeit vom 01.08.2015 bis 29.02.2016 die Rente in Höhe von drei Vierteln und vom 01.03.2016 bis 31.03.2016 in Höhe der Hälfte und ab dem 01.04.2016 in voller Höhe an. Die Berechnung erläuterte die Beklagte in der Anlage des Bescheides. Der Berechnung der individuellen Hinzuverdienstgrenze legte sie die Entgeltpunkte (1,5000) und die maßgebende monatliche Bezugsgröße zugrunde.
Mit Rentenbescheid vom 29.06.2016 berechnete die Beklagte die Rente wegen einer Änderung des Kranken- und Pflegeversicherungsverhältnis für die Zeit ab dem 09.04.2016 neu. Der Zahlbetrag ab dem 01.07.2016 erhöhte sich auf 1.101,81 € (1.026,85 € zzgl. Zuschuss zum Krankenversicherungsbeitrag in Höhe von 74,96 €). Hieraus ergab sich eine Nachzahlung von 483,28 €. Die individuellen Hinzuverdienstgrenze blieben unverändert.
Am 11.07.2016 legte die Klägerin gegen die Rentenbescheide vom 09.06.2016 und 29.06.2016 Widerspruch ein und führte zur Begründung aus, die Hinzuverdienstgrenzen seien verfassungswidrig. Die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente orientiere sich an der täglichen Höchstarbeitszeit von drei Stunden. Deshalb müsse der Hinzuverdienst aus drei Stunden täglicher Arbeit unabhängig vom Stundenlohn anrechnungsfrei sein. Zumindest müsse die Grenze bei 548,25 € liegen, denn unter Ansatz des gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 € könnten von einem voll erwerbsgeminderten Rentenbezieher 548,00 € pro Monat (3 h x 21,5 Tage x 8,50 €) verdient werden. Die gültige Hinzuverdienstgrenze von 450,00 € sei nicht zu rechtfertigen und willkürlich.
Mit Widerspruchsbescheid vom 01.09.2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und führte zur Begründung aus, der Rentenversicherungsträger sei an Recht und Gesetz gebunden und dürfe nicht prüfen, ob das Gesetz verfassungsgemäß sei.
Am 08.09.2016 hat die Klägerin beim SG Klage erhoben und zur Begründung ihre Argumentation aus dem Vorverfahren wiederholt. Ergänzend hat sie ausgeführt, es handele sich um einen Präzedenzfall. Die Hinzuverdienstgrenze sei weder systemimmanent noch zeitgemäß und müsse erhöht werden. Wer noch unter drei Stunden arbeiten könne, müsse zusätzlich zum Arbeitslohn die volle Erwerbsminderungsrente ausschöpfen können, um die eigene wirtschaftliche Situation verbessern und weiterhin am täglichen Arbeitsleben teilnehmen zu können. Andernfalls drohten eine weitere Verschlechterung der psychischen Situation und weitere Kosten für das Gesundheitssystem. Bei der Berechnung der Hinzuverdienstgrenze bliebe die Höhe des Stundenlohns zweitrangig. Dies stelle eine Diskriminierung dar, die nicht dem Stand der heutigen Zeit entspräche. Die Geringfügigkeitsgrenze stelle ke...